Das Schmetterlingsmädchen - Roman
möglicherweise an Straßen vorbeigefahren, auf denen ihre Mutter und vielleicht auch ihr Vater gegangen waren, vielleicht ihre Tochter getragen hatten. Sie hatte Gebäude gesehen, die die beiden auch gekannt haben mochten. Hatten sie noch andere Kinder gehabt? Ihre Geschwister? Sprachen sie die Sprache der Frau mit dem Wolltuch? Sahen sie ihr ähnlich? Würden sie Cora erkennen, wenn sie ihr auf der Straße begegneten? Ihre Verwandten? Würden sie wissen, wer sie war? Sie ermahnte sich, sich nicht zu große Hoffnungen zu machen. Aber selbst wenn sie diese Menschen nie aufspürte, selbst wenn sie schon tot waren und sie oder Howard und Earle nie kennenlernen würden, wollte sie in den nächsten Wochen wenigstens durch dieselben Straßen gehen, die sie beschritten hatten.
Auf der anderen Seite der Tür knarrten die Bettfedern. Cora streckte ihre schmerzenden Zehen und drückte sie an den Wasserhahn, während sie über das Zischen der Rohre hinweg auf andere Geräusche lauschte. Was sollte sie machen, wenn Louise einfach zum Times Square lief, während sie in der Wanne lag, nackt und nicht in der Lage, sie aufzuhalten? Woher sollte sie wissen, ob Louise nicht genau das plante? Sie war ganz anders, als Cora in diesem Alter gewesen war. Sie hatte die Kaufmanns so sehr gebraucht und hätte nie gewagt, sich so schlecht zu benehmen. Beunruhigt wegen der Stille zog Cora den Stöpsel aus der Wanne und stand vorsichtig auf. Der Spiegel war beschlagen. Sie nahm eines der dünnen, aber sauberen Handtücher, die sie in dem winzigen Wandschrank gefunden hatte, und rieb damit die Scheibe trocken, sodass sie ihre geröteten Wangen und ihr Haar sehen konnte, das immer noch feucht auf ihren Schultern lag, sich aber schon wieder zu Locken ringelte. Sie betrachtete ihren Körper, ihre Brüste und Hüften, wo die Druckstellen von ihrem Korsett erst jetzt zu verblassen begannen. Sie drückte einen Finger auf eine Stelle. Es tat weh, als sich die gerötete Haut weiß färbte. Wenn sie eine andere Figur hätte, könnte sie gelegentlich vielleicht auch ohne Korsett auskommen.
Sie hatte gerade ihr Nachthemd angezogen, als sie erst Männerstimmen und dann ein Klopfen an der Tür hörte. Sie machte die Badezimmertür einen Spaltbreit auf. Louise, die angezogen auf dem Bett lag und ihren Schopenhauer las, blickte nicht auf.
»Louise!«
Neuerliches Klopfen. Louise schien es nicht zu hören.
»Allo? Allo? Wir, äh, haben Gepäck für Brooks, Gepäck für Car-liss-le?«
»Louise!«, zischte Cora. »Unsere Koffer! Das habe ich völlig vergessen. Würdest du bitte zur Tür gehen?« Sie zeigte auf sich selbst. »Ich bin im Nachthemd.«
Ohne Cora anzuschauen, klappte Louise das Buch zu und stand auf. Ohne ihre hohen Absätze wirkte sie überraschend klein.
»Warte, ich habe die Aufgabescheine.« Cora griff hastig nach ihrer Handtasche. »Und wir müssen Trinkgeld geben.« Sie versuchte zu rechnen. Zwei Koffer. Drei Stockwerke. Gab man in einer Großstadt mehr Trinkgeld? Sie gab Louise zwei Dollar und wies sie an, die Koffer ins Vorderzimmer stellen zu lassen.
Louise nahm wortlos das Geld, ohne ihr in die Augen zu sehen, und ging durch die Küche ins Vorderzimmer. Cora blieb im Schlafzimmer hinter der Wand verborgen.
»Tut mir leid. Hallo.« Sie hörte, wie Louise die Tür öffnete. »Danke. Ja, ich habe die Aufgabescheine. Carlisle und Brooks. Hierher, bitte. Danke schön.«
Cora hörte Grunzen und schwere Schritte. Ein Mann sagte in einer Sprache, die sie nicht kannte, mürrisch etwas zu dem anderen. Sie schaltete das Licht im Schlafzimmer aus, spähte durch die Küche ins Wohnzimmer und sah ihren Indestructo-Koffer in den Armen eines untersetzten dunkelhaarigen Mannes, der nur mit einem verschwitzten Unterhemd und Hosen mit Hosenträgern bekleidet war. Er verschwand aus ihrem Blickfeld, als ein anderer Mann, bärtig und genauso verschwitzt, mit dem anderen Koffer hereinkam. Sie konnte die Männer durch die ganze Wohnung riechen – es waren zwar nur schweißdurchtränkte Kleider, aber der Geruch war so intensiv, dass ihr die Augen tränten.
Es folgte noch mehr Gerede, das sie nicht verstehen konnte. Louise trat vor und nahm von einem der Männer einen kleinen Block und Stift entgegen. Louise sah ziemlich gequält aus, als sie unterschrieb, und Cora fragte sich, wie sie es aushalten konnte, so nah bei den Männern zu stehen. Sie trug immer noch die Bluse mit dem tiefen Dekolleté, aber der Mann, der auf den Block wartete, schien nicht
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