Das schmutzige Spiel Kommissar
sich zu Clarissa hinab. Sie gab der Tochter einen langen, zärtlichen Kuß. Clarissas Augen rundeten sich erstaunt. Es' war sonst nicht die Gewohnheit der Mutter, ihre Gefühle durch innige Küsse auszudrücken.
„Was ist los, Mama? Fühlst du dich nicht wohl?"
Die Gräfin richtete sich auf. „Das übliche. Du weißt schon . . . Migräne. Ich bin sie seit gestern Abend nicht losgeworden."
Sie setzte sich und musterte kritisch den Frühstückstisch. „Eine Tasse Kaffee wird mir guttun", meinte sie.
Clarissa stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Himmel, bin ich froh, daß ich heute zurück nach London fahren kann!"
„Ich möchte wissen, was du daran so herrlich findest, mein Kind. Natürlich ist London eine faszinierende Stadt. Aber du wirst die gleichen Gesichter sehen und die gleichen Lokale besuchen. Es wird sich vermutlich nichts ereignen, was deine Vorfreude rechtfertigt."
„London ist Leben. Selbst wenn es nur in einer gewissen Distanz an mir vorüberzieht, ist es doch zum Greifen nahe! Hier in Ridden Cross gleicht man einem Einsiedler; man ist isoliert von allem, was Spannung bietet."
Mein liebes Kind, dachte die Gräfin voll ironischer Betrübnis, an Spannung ist auch hier bei uns kein Mangel mehr . . . wenngleich ich auf diese Art von Erregung nur allzu gern verzichten würde.
Es klopfte, sehr scharf und, wie die Gräfin schien, dringlich. Selbst Clarissa schien das Klopfen als ungewöhnlich zu empfinden, denn isie schaute irritiert zur Tür, als die Gräfin „Herein!" rief.
John erschien. Es hatte den Anschein, als sei er betrunken. Er torkelte über die Schwelle wie ein Mann, der die Kontrolle über seine Beine verloren hat. Sein langes Gesicht mit dem gelblichen, leicht hervorstehenden Pferdegebiß war leichenblaß. Er schluckte und sagte: „Gnädige Frau... es ist etwas Schreckliches passiert!"
Die Gräfin ahnte, was jetzt kommen mußte. Der Butler oder das Küchenmädchen hatten vermutlich die gesprengte Tür im Südflügel bemerkt.
„Nun?" fragte sie ruhig.
„Ein . . . ein Toter liegt im Schloß!"
Das Blut der Gräfin schien vom Herzen wegzuströmen . . . und eine Sekunde später wie eine heiße Woge zurückzufluten.
„Ein Toter?" flüsterte sie.
„Kein Zweifel", erwiderte John und befeuchtete sich die trocken gewordenen Lippen mit der Zunge. „Ein Mann . . . ein etwa fünfzigjähriger Mann mit dunklem Haar. Er ist gut gekleidet . . . sogar sehr gut gekleidet. Er sieht aus wie ein Herr..."
„Wie kommt er in das Schloß?" hörte sich die Gräfin fragen.
„Durch die Tür im Südflügel. Irgend jemand muß sie gesprengt haben. Sie steht halb offen."
„Der Schuß!" rief Clarissa und schaute die Mutter an. „Siehst du, ich habe mich nicht getäuscht!"
Die Gräfin erhob sich. Sie mußte sich einen Moment am Tisch festhalten. Berger war also tot. Ein Erpresser hatte das Ende seines Weges erreicht. War damit alles gut?
Er war ermordet worden. Oder hatte ihn einfach der Schlag gerührt? War das Schicksal, das sich noch vor wenigen Stunden von so unerbittlicher Grausamkeit gezeigt hatte, zu einer unerwarteten Gnadengeste bereit?
„Der Tote", sagte John, „hat ein Messer im Rücken . . . ein ziemlich langes Messer mit einem schwarzen Holzgriff."
„Lieber Himmel!" flüsterte Clarissa.
„Ich denke, es wird nötig sein, sofort die Polizei zu alarmieren", sagte die Gräfin und wunderte sich, daß sie so ruhig zu sprechen vermochte. „Wir können doch nichts mehr tun . . .“
„Wünschen gnädige Frau, daß ich McCormick rufe?" fragte der Butler und zog ein blütenweißes Taschentuch hervor, um die mit Schweißperlen bedeckte Stirn abzutupfen.
„Warum sind Sie so nervös, John?" fragte Clarissa. „Es ist ein Verbrechen geschehen . . . das ist furchtbar, aber wir können es nicht ändern. Es ist schließlich nicht unsere Schuld, daß der Ärmste auf so grausame Weise sterben mußte."
„Bitte um Vergebung, gnädiges Fräulein . . . aber ich bin es nicht gewohnt, am frühen Morgen auf einen Toten zu stoßen . . . dazu noch auf einen, der ohne Zweifel das Opfer eines Mordanschlages wurde."
„Hören Sie, John . . . was hatten Sie eigentlich zu so früher Stunde dm Südflügel zu suchen?" wollte Clarissa wissen.
Die Gräfin schaltete sich ein. Ihre Stimme war ungewöhnlich scharf und vorwurfsvoll. „Ich verstehe nicht, was diese Fragen sollen, Clarissa. Wer dich hört, könnte meinen, du stellst hier ein Verhör an. Willst du John etwa verdächtigen, in den Fall
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