Das Schneemädchen (German Edition)
da? Ist das Baby gekommen?», flüsterte er laut durch den Vorhang. Seine Mutter kam zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern.
«Noch nicht, Garrett. Noch nicht.» Ihr weicher, liebevoller Ton war so ungewohnt, dass er Garrett nur noch mehr in Angst und Schrecken versetzte.
«Herrgott, Ma. Geht es ihr gut? Ist das normal?»
«Sie tut sich schwer. Schwerer, als ich mich mit euch dreien getan habe. Aber sie ist stark, und sie kämpft.»
«Kann ich zu ihr?»
«Jetzt nicht. Wir lassen sie ein bisschen ausruhen, bevor sie wieder mit dem Pressen anfängt. Sie hat um Schnee gebeten, ausgerechnet. Du könntest ihr eine Tasse voll holen. Das schadet sicherlich nicht.»
Er füllte einen Krug randvoll mit frischem Schnee und gab ihn seiner Mutter.
«Sag ihr, dass ich sie liebe. Ja?»
Stunden später, die Sonne stand als verblasster Kreis am Himmel, erhoben sich die Stimmen wieder.
So ist es gut. Komm, Liebes. Press mit aller Kraft. Komm. Komm.
Wieder dieser barbarische Schrei, wieder und wieder.
Man sieht schon das Köpfchen. Jetzt komm. Nicht nachlassen, Mädchen. Komm schon. Komm schon.
Und dann ein Schrei wie von einem blökenden Kalb, und Garrett begriff nicht, was er da hörte. Er sah zu Jack, der neben ihm stand.
«Das ist euer Baby, Garrett. Es ist da.» Jack führte ihn zum Vorhang. «Er kommt jetzt zu euch rein, meine Damen. Will sein Kind sehen.»
«Nicht so hastig, zum Kuckuck noch mal. Erst müssen wir hier Klarschiff machen.»
«Geht es ihr gut? Faina, ist alles in Ordnung mit dir? Hörst du mich?»
Ja, Garrett, und es war die Stimme, die er liebte, die ihm wie süßes Flüstern in den Ohren klang. Es ist alles in Ordnung mit uns.
Dann wieder ein Schrei von dem Kind, herzzerreißend dünn und schwach.
So, mein Kleiner, sagte Esther. Jetzt lass dich von deinem Papa anschauen.
Mabel stand tränenüberströmt neben dem Bett. Esther tauchte am Nachttisch Lappen in eine Waschschüssel. Faina saß aufrecht, von Kissen gestützt, im Bett. Ihr Gesicht war schweißglänzend und ihr Haar völlig zerzaust. Sie sah von Garrett zu dem Deckenbündel in ihren Armen.
Nur zu. Keine Angst, sagte Esther. Geh hin und sieh ihn dir an, deinen Sohn.
Sohn?
Ganz recht. Als gäb’s hier in der Gegend nicht schon genug von eurer Sorte.
Als er am Bett stand, legte er Faina einen Arm um die Schulter und lugte in die Decke, aus der ein faltiges, rotes Gesichtchen zu ihm aufsah. Das Neugeborene blinzelte mühsam mit seinen verklebten Augen und zog die Stirn kraus. Garrett bückte sich und legte seine Lippen auf die Wange des Babys; die Haut war so weich, dass er sie kaum spürte. Dann wandte er sich Faina zu und gab ihr einen Kuss auf die feuchte Stirn.
Kapitel 54
Jeder Tag erschien Mabel zart und neu, als wäre sie eben von einer langen Krankheit genesen und hätte beim ersten Schritt vor die Tür entdeckt, dass sie den Übergang von Sommer zu Winter verschlafen hatte. Wie damals, als sie Faina in die Berge folgte und die Welt plötzlich wie frisch aus dem Ei geschlüpft schien und alles funkelte und glänzte, im Angesicht der unfassbar wundersamen Schneekristalle und der Ewigkeit von Werden und Vergehen.
Und all dies – die ganze Welt – schloss sich in die geballten Fäustchen des Neugeborenen. In seinen schreienden Mund und in Fainas von der Milch angeschwollene Brüste und in Worte, von denen Mabel wusste, dass Garrett sie nicht aussprechen konnte, weil er zu sehr von ehrfürchtigem Staunen erfüllt war. Aber es war noch größer als all das. Es war auch in dem Sonnenlicht, das sich auf dem Februarschnee in tausend Facetten brach, so hell, dass Mabel die Augen zusammenkneifen musste.
Jeden Morgen ging sie über den verschneiten Pfad zum Blockhaus von Faina und Garrett. Garrett hatte gemeint, sie solle doch gleich über Nacht dableiben, doch sie wusste, dass die drei auch Zeit für sich brauchten. In einem Korb brachte sie, was von ihrem Frühstück mit Jack übrig geblieben war – hartgekochte Eier, Brotscheiben oder Speckstreifen –, sowie einen Beutel mit Windeln, Waschlappen und Kleidungsstücken, die sie bei sich zu Hause gewaschen und am Ofen getrocknet hatte.
Wie geht es dir heute, Kind?, fragte sie Faina jeden Morgen, worauf Faina lächelte und auf das Baby in ihren Armen sah.
Mir geht es gut. Und ihm auch. Schau, wie er zu dir hinsieht, wenn du sprichst. Er weiß genau, dass du da bist.
Das Kind gedieh offenbar in der Tat prächtig. In den ersten Tagen hatte das Stillen sich noch mühsam
Weitere Kostenlose Bücher