Das Schneemädchen (German Edition)
und oft wusste sie nicht, ob es Tag oder Nacht war, ob der Abend dämmerte oder der Morgen graute.
Eines Nachmittags, als die Albträume sie nicht loslassen wollten, ging sie hinaus und blinzelte in der hellen Sonne. Sie warf den Meisen und den Fichtenkreuzschnäbeln Brotkrumen hin und sprach mit ihnen, als könnten die Vögel sie verstehen, doch beim Klang ihrer Stimme flatterten sie nur erschreckt davon. Mabel spazierte zur Weide und streichelte dem Pferd die samtigen Nüstern. Sie schlenderte in den Wald und pflückte Moosbeerenzweige, und während sie die winzigen weißen Blüten in Händen hielt, suchten ihre Augen nach dem Kind, doch der Wald war still. Sie dachte an den Schwarzbären und an die Wölfe. Sobald Jack reisefähig war, würden sie diesen Ort hinter sich lassen. Sie hatten hier nichts zu suchen.
«Hallo! Hallo! Ist jemand zu Hause?»
Die Sonne schien ihr ins Gesicht, sodass sie den Reiter nicht erkennen konnte. Der Mann stieg ab und zog einen Jutesack aus seiner Satteltasche. Es war George. Fast wären Mabel vor Erleichterung die Beine weggesackt, und als er ihr den Arm reichte, hakte sie sich dankbar ein.
«Wie ich höre, ist der alte Knabe aus dem Verkehr gezogen?»
Er führte sie ins Haus zu einem Stuhl; dann nahm er ein klirrendes Einmachglas nach dem anderen aus dem Sack. Er reihte sie auf dem Tisch auf, und in jedem funkelte glasklare Flüssigkeit.
«Nun guck mich mal nicht so an, Mabel. Es gibt wirklich keinen besseren Grund als einen kaputten Rücken. Wo steckt er denn?»
Mabel wies auf die Tür, hinter der Jack schlief.
«Er kann immer noch nicht allein gehen», flüsterte sie. «Und sobald die Wirkung des Laudanums nachlässt, sind die Schmerzen unerträglich.»
George schüttelte den Kopf und schnalzte leise mit der Zunge. «Verdammt. Mit dem ist im Moment rein gar nichts anzufangen, was?»
«So ist es, George. Rein gar nichts.» Sie stand auf und stellte ein Schnapsglas nach dem anderen ins Küchenregal, nur um etwas zu tun.
«Sobald es ihm gut genug geht, buche ich unsere Rückreise», erklärte sie. «Er wird euch unsere Gerätschaften und die sonstige Ausrüstung überlassen wollen und natürlich auch das Pferd, da bin ich mir sicher. Ich fürchte, wir werden nichts davon mitnehmen können.»
«Mabel?»
«Wir können hier nicht bleiben. Das musst du doch verstehen.»
«Ihr verlasst euren Hof? Für immer?»
«Wir haben uns doch so schon kaum über Wasser gehalten, George. Und wir sind nur zu zweit. Hierherzukommen war ein phantastisches Abenteuer. Aber jetzt ist der Punkt gekommen, an dem wir uns mit unserem Los abfinden und nach Hause gehen sollten.»
«Ihr könnt doch jetzt nicht einfach weggehen! Ihr habt hier schon so viel Arbeit reingesteckt. Es muss einen Ausweg geben.»
George blickte zur Schlafkammer hinüber. «Wie lange liegt er da schon so?»
«Über eine Woche.»
«Und wie viel hatte er vor dem Unfall auf den Feldern schon geschafft?»
«Er war noch immer am Pflügen.»
«Noch nichts im Boden?»
Mabel schüttelte den Kopf.
«Verdammt. Entschuldige. Das ist aber auch ein schwerer Schlag.»
«Ja, George, das kann man wirklich sagen.»
Als George sich aufs Pferd schwang, war er ungewöhnlich still.
«Wir verabschieden uns noch, bevor wir fahren», rief Mabel ihm von der Türschwelle aus zu. «Sag Esther danke, für alles. Ihr wart wirklich die wunderbarsten Nachbarn, die wir uns hätten wünschen können.»
George drehte sich kurz zu ihr um, schüttelte den Kopf und ritt ohne ein Wort davon. Mabel war überzeugt, dass in seinem Blick ein Vorwurf gelegen hatte.
Später am selben Nachmittag war sie gerade hinter das Haus gegangen, um die Waschschüssel auszuleeren, da vernahm sie das Rumpeln eines Wagens auf dem Weg. Sie eilte ins Haus, um die Bettlaken und die Unterwäsche zu verstecken, die sie gerade wusch.
«Unseretwegen brauchst du das nicht zu tun», sagte Esther lachend von der Tür.
«Oh, Esther!» Mabel erkannte sich selbst nicht wieder. Sie drückte Esther fest an sich, verbarg ihr Gesicht an der Schulter der Freundin und schluchzte los.
«Gut so. Gut so. Wein dich mal schön aus.» Esther klopfte ihr sanft auf den Rücken. «Das hilft.»
Mabel richtete sich auf, lächelte und wischte ihr Gesicht ab. «Schau mich nur an, wie sehe ich bloß aus. So begrüßt man doch keine Gäste.»
«Über alles andere hätte ich mich gewundert. Du arme Frau musst dich hier seit Tagen einsam und allein um deinen lädierten Mann kümmern. Da sind sie
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