Das schönste Wort der Welt
das
Meer im Winter und ein Fenster, tropfenübersät von außen und beschlagen von
innen.
Wir stehen vor der
Tür der kleinen Arztpraxis.
»Ich werde immer für
euer Kind spielen, dann wird es vielleicht ein großer Musiker.«
Plötzlich wird sie
traurig, ich streiche eine Strähne ihrer kräftigen, roten Haare zur Seite.
»Spiel ihm aber nicht
Nirvana vor, ich flehe dich an.«
»Was soll ich ihm
denn sonst vorspielen?«
»Mozart …«
»Vergiss es.«
»Chet Baker?«
»Den ja.«
Der Arzt war nicht
da, die Tür verschlossen. Aska ging die Treppe hoch und klingelte an anderen
Türen, nur eine Frau im Rollstuhl war noch da.
Aska kam zu uns
zurück, die Arme müde an den Seiten.
»Sie sind alle weg.«
»Weg wohin?«
»Sie weiß es nicht,
hier ist keiner mehr.«
Wir hörten Stimmen,
und kurz darauf schauten zwei Männer in Tarnanzügen von einem Balkon. Sie
standen ruhig da wie zwei Angestellte in der Pause, rauchten, musterten uns und
schienen sich über uns lustig zu machen. Ich bekam Angst, zum ersten Mal. Wir
blieben noch eine Weile vor dem Eingang stehen, verstört wie ausgesperrte
Hühner bei Sonnenuntergang vor ihrem Stall.
Das Taxi war weg, und
wir machten uns zu Fuß auf den Weg. Aska ging auf der anderen Straßenseite, sie
sah aus, als käme sie von einem Ausflug ins Grüne zurück. Sie trällerte vor
sich hin und versuchte, mit der Hand die blühenden Zweige der Dornbüsche zu
erreichen. Wir liefen am Straßenrand, nur wenige Autos kamen vorbei, alte
Schüsseln, die ihren Gestank zurückließen. Diego gab mir seine Hand, ohne
Gewicht, geistesabwesend. Kurz zuvor war ihm ein Objektiv kaputtgegangen, es
war ihm auf der Treppe in diesem Haus heruntergefallen, für ihn war das der
Schmerz des Tages. Er hatte diese Pilgerfahrten satt und ließ sich von mir nur
mitziehen, aus Trägheit, aus Liebe. Als folgte er einer Ehefrau, die an einer
einsamen Obsession litt.
Ich blieb stehen, um
einen Blick zum Himmel zu werfen, auf die Sonne, die sich von der Nacht
vertrieben zurückzog. Nicht ein Stern war zu sehen. Wir tappten im Dunkeln zu
den Lichtern der Stadt zurück. Aska wohnte in einem der ersten Viertel. Wir
brachten sie bis zur Haustür, und sie fragte, ob wir mit zu ihr kommen wollten.
Sie könne uns allerdings nicht viel anbieten.
»Das macht nichts.«
Wir gingen hinauf.
Jetzt waren wir die
Waisen, und sie wie unsere Mutter. Es war eigentlich kein Wohnhaus, eher eine
Art Hotel. Kleine Wohnungen, alle nebeneinander wie Badekabinen.
»Das waren die
Unterkünfte der Olympiateilnehmer.«
In der Wohnung stand
ein im Boden verankerter, heller Holztisch und eine Eckbank im gleichen Braun
wie der Teppichboden. An einem Gitter an der Wand eine Reihe Gläser, es sah aus
wie in einem Wohnmobil. Ich wollte ins Bad und landete im Schlafzimmer, auch
das klein und dunkel. An der Wand hing ein Poster von Janis Joplin mit dem für
sie typischen Gesicht einer alten Herumtreiberin, dazu krause Haare, der
Schlitz ihrer Augen und ihres Mundes, der Wind des Deliriums.
Darunter ein Spruch: AUF DER BÜHNE HABE ICH
SEX MIT ZWANZIGTAUSEND LEUTEN. DANACH GEHE ICH NACH HAUSE. ALLEIN .
Wir plauderten ein
bisschen. Aska nahm Gläser vom Gitter, goss uns etwas Milch ein, gab jeweils
einen Teelöffel Kakaopulver dazu und rührte um. Sie bohrte sich einen Finger in
die Wange, um uns zu sagen, wie gut das Getränk sei und dass es uns trösten
würde. Sie sagte, sie tröste sich immer so, mit Süßigkeiten, wie ein kleines
Kind. Doch sie sah gar nicht traurig aus. Sie hatte die violetten Stiefel
ausgezogen und lief barfuß, sie hatte lange, weiße Füße mit langen, schmalen
Zehen, auch ich zog einen Schuh aus und stellte meinen Fuß neben ihren, wir
lachten, weil meine Füße viel kürzer und breiter waren. Ich sagte ihr, sie
könnte Basketball spielen. Sie schüttelte den roten Kopf und sagte wieder, sie
wolle nichts als Musik machen, sie sei schon mit der Trompete auf die Welt
gekommen.
»Das ist ein
seltsames Instrument für eine Frau.«
»Es passt zu mir.«
»Und warum?«
»Man braucht seinen
ganzen Atem, seine ganze Seele.«
Sie presste die
Lippen ans Mundstück und spielte Diane ,
sie schloss die Augen und wiegte sich dahinsiechend wie Chet Baker.
Diego sah ihr mit
leicht geöffnetem Mund zu, wie man jemandem zusieht, der einem nahesteht und
der einen Fehler machen könnte. So wurde der Abend warm, mit diesem Kakao und
dieser Musik. Diego hatte einen Joint gedreht und trommelte nun mit den Fingern
auf den Tisch.
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