Das schönste Wort der Welt
Dubrovnik traf
der ärztliche Befund ein: Diego war durch den Sturz gestorben, er hatte eine
Schädelverletzung und Brüche am ganzen Körper, Hände und Unterarme waren
abgeschürft, als hätte er noch versucht, sich festzuhalten.
Ich fragte den
Capitano, ob es sein könne, dass ihn jemand gestoßen habe.
Die Polizei von
Dubrovnik schloss das aus, viele Zeugen hätten gesehen, wie Diego auf der
Hafenmole von Korčula spazierenging und dann auf die
Klippen geklettert war.
»Er war … verwirrt.«
Giuliano senkte den
Kopf, öffnete ein Schubfach und nahm eine Packung Lakritze heraus.
Er schaute mich an,
und ich spürte seine Qual, sie glitt mir auf den Leib.
Das Baby im Tragetuch
regte sich, unversehens hatte es seine Füßchen gegen meine Beine auf dem Stuhl
gestemmt und sich hochgedrückt. Ich legte ihm eine Hand auf den Kopf und bekam
Angst, es könnte sich zum Capitano umdrehen, bekam die unsinnige Angst, es
könnte genauso plötzlich, wie es sich hochgedrückt hatte, mit ihm sprechen und
verraten, dass es nicht mein Kind war.
Er öffnete die Packung,
bot mir Lakritze an und verlor immer noch Zeit.
»Hat Ihr Mann Drogen
genommen?«
Hinter einem Gebüsch,
dort, wo Diego die Nacht verbracht hatte, war eine Spritze gefunden worden, und
in seinem Blut waren Spuren von Heroin gewesen.
Ich ließ den Kopf
sinken, ich hätte ihn am liebsten gegen den Tisch geschlagen. Doch ich stieß
gegen den Kopf des Babys. Gern hätte ich ihn langsam hundertmal gegen den Tisch
geschlagen und hundertmal Nein gesagt. Der Junge aus den ligurischen Gassen hatte sein Ende beschlossen.
Der Capitano nickte,
die Augen fest wie Glas.
»Aus einem Krieg
zurückzukehren ist nicht leicht.«
Neben dem ärztlichen
Befund lag ein gelber Umschlag. Ich hatte ihn schon eine Weile im Blick. Es war
der schlimmste Teil, der heikelste, Giuliano hatte ihn zur Seite gelegt, doch
jetzt musste er geöffnet werden. Es waren die Fotos des Leichnams.
Mit einem Brieföffner
trennte Giuliano den Umschlag auf, der gab kaum nach, strapazierfähiges Papier
der alten jugoslawischen Bürokratie. Rasch blätterte er die Bilder durch.
Ich beobachtete ihn,
um von seinem Gesicht eine Reaktion abzulesen, ich küsste den duftenden Kopf
des Babys, und plötzlich wartete ich auf ein Wunder, wartete ich darauf, dass
der Tote trotz der Papiere, trotz der detaillierten Beschreibung seiner Kleidung
und trotz des Silberrings am Finger nicht Diego war.
Der Capitano schien
an Bilder von Toten gewöhnt zu sein, er verzog keine Miene. Dann schaute er
liebenswürdig auf.
»Es genügt, wenn Sie
sich eins ansehen, doch das muss sein, Sie müssen eine Erklärung
unterschreiben.«
Ich sah mir die
Bilder des toten Fotografen an, sie glitten ruhig an mir vorüber wie Boote auf
einem Fluss.
»Ja, das ist er.«
Als der Capitano die
Bilder in den Umschlag zurücksteckte, sagte er: »Er sieht aus wie Che Guevara.«
Das stimmte, im Tod
war er wunderschön. Mit einem fahlen Gesicht, von Schatten verschlungen, und
doch war die Spannkraft der Seele, die Liebe zum Leben noch zu erkennen.
Die Tage vergingen,
ich lernte, dass es wesentlich einfacher war, ein Neugeborenes aus Sarajevo zu
entführen, als einen Leichnam aus Dubrovnik nach Hause zu holen. Dann kam der
Sarg.
An einem sonnigen Tag
zerfurchte ein Militärflugzeug in der absoluten Stille eines flüssigen Himmels,
der den Horizont wabern ließ, den weichen Asphalt der Rollbahn. Mit langen
Schritten erreichte der Capitano in seiner tadellosen Uniform die Maschine.
Unwirkliche Sekunden verstrichen, wie vor einer Geburt. Dann öffnete sich die
Flugzeugtür, und der Sarg glitt aus dem Metallbauch.
Mir brach der Schweiß
aus, meine Bluse klebte mir am Körper wie ein Badeanzug.
Ein paar Jahre
später, als Giuliano mir einen Heiratsantrag machte, sollte ich mich an diese
Ankunft erinnern, Diegos Leichnam im Sarg und der Capitano, der ihn unter dem
heißen Himmel, der alles flimmern ließ, erwartete. Ein Schicksal ging und eines
kam.
Ich blieb einen
ganzen Tag bei dem Sarg, man hatte ihn in einem kleinen Raum abgestellt. Es
hatte Probleme gegeben, weil das Begräbnis erst für den nächsten Vormittag
festgesetzt war und die Flughafenbehörde nicht die Absicht hatte, den Sarg so
lange aufzubewahren. Diego war kein Kriegsheld. Er war ein unbekannter
Fotograf, der mit Heroin vollgedröhnt von einer Klippe gestürzt war. Der
Capitano sah meine Verwirrung, die ihn inzwischen nicht mehr überraschte, gleichmütig
mit an. Es lag auf
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