Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
jeweils nur ein einziges Mal. Sie bestimmt eine ganze Reihe von Charakteristika: Augen- und Haarfarbe, ob man Rechts- oder Linkshänder ist. Auch die Veranlagung zu Krankheiten wird vererbt von den Eltern und deren Vorfahren. Somit könnte Ihre Nase die gleiche Form haben wie die Ihrer Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter. Wenn wir eine Nasenform erben können, sind vielleicht noch ganz andere Dinge möglich.«
»Aber Nasen sind doch etwas anderes als Erinnerungen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Angeblich hängt es von einem Gen ab, ob jemand dazu neigt, Risiken einzugehen oder nicht. Meine älteste Tochter zum Beispiel spielte schon als kleines Kind gern mit dem Feuer. Wir mussten ihr ein Geschirr anlegen, damit sie im Wagen blieb. Sie kletterte aus ihrem Bettchen, die Bücherregale und einfach überall hinauf. Jetzt, als Erwachsene, geht sie zum Bergsteigen und Fallschirmspringen. Wo sie das her hat? Keine Ahnung. Jedenfalls nicht von uns«, erklärte er lachend. »Meine Frau und ich, wir sind nicht gerade das, was man begeisterte Bergsteiger nennen würde.
Jedenfalls sind gewisse Aspekte unseres Wesens und unseres Temperaments ganz eindeutig in den Genen verankert. Und die Erinnerung ist auch nicht weniger greifbar als das Temperament.«
»Tja, vermutlich haben Sie recht.«
Er klappte den Ordner auf. »Ich habe ein paar sehr interessante Artikel zu dem Thema entdeckt. Hier wäre zum Beispiel einer von einem amerikanischen Professor darüber, dass die Fähigkeiten mancher Menschen mit Savant-Syndrom in einer Form des genetischen Gedächtnisses gründen könnten. Es gibt Autisten, die mental und gesellschaftlich keinen Zugang zu unserer Welt haben, aber merkwürdige, unerklärliche Fähigkeiten auf einem Gebiet, zum Beispiel Musik oder Mathematik, besitzen. Dieser Professor verwendet sogar den Ausdruck ›genetisches Gedächtnis‹.
Und hier wäre noch ein interessanter Aufsatz, der allerdings ein wenig in die New-Age-Richtung geht. Der Verfasser vertritt die Theorie, dass die hypnotische Rückführung von Menschen zu ihren früheren Leben unter Umständen nichts anderes ist als die Erinnerung an das Dasein ihrer Vorfahren.« Er reichte mir den Ordner und lehnte sich zurück, während ich die Kopien durchblätterte. Nach einer Weile sagte er: »Vielleicht sollte ich selbst über das Thema forschen.«
»Mit mir als Objekt?« Der Gedanke belustigte mich. »Ich kann nicht garantieren, dass ich der Wissenschaft neue Erkenntnisse bringen würde.«
»Warum nicht?«
»Man könnte ja nicht nachweisen, wie viel von der Geschichte meinem Gedächtnis entstammt und wie viel meiner Phantasie entspringt«, erklärte ich. Captain Gordon hatte ich schließlich aufgrund meiner Frustration über Stuart und Graham ins Geschehen zurückgebracht. »Der Familienhintergrund ist die eine Sache, aber die Dialoge …«
»Ich vermute mal, dass es sich um eine Mischung aus Erinnerung und schriftstellerischer Fähigkeit handelt. Warum auch nicht? Wir verfälschen die Vergangenheit doch ständig und schmücken Dinge aus – die Fische, die wir gefangen haben, werden immer größer, unsere Fehler dafür immer kleiner. Doch das Grundereignis bleibt. Wir können Trauriges nicht in Lustiges verwandeln, egal, wie sehr wir uns bemühen. Was meiner Ansicht nach bedeutet, dass die Dinge, die Sie über Sophia schreiben, im Wesentlichen stimmen.«
Darüber dachte ich nach, als ich wieder vor dem Computer saß.
Heute spürte ich, wie mein Bewusstsein gegen meine Figuren ankämpfte, die sich weigerten, meine Wege zu gehen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, die Essensszene zu schreiben, bei der Captain Gordon und John Moray weiter um Sophias Gunst rivalisieren würden.
Doch die beiden blieben stumm, so dass ich mich am Ende gezwungen sah, The Old Scots Navy , das Buch, das Dr. Weir mir geliehen hatte, hervorzuholen, um nach einer interessanten Episode auf See zu suchen, die Captain Gordon zum Besten geben konnte.
Im Anhang entdeckte ich ein Dokument, das aus der richtigen Zeit zu stammen schien. Es begann folgendermaßen: »Während Hookes Aufenthalt in Edinburgh war Captain Gordon, Kommandant zweier schottischer Fregatten zur Küstenpatrouille, die eine mit vierzig, die andere mit achtundzwanzig Kanonen, an Land gegangen, um dem Earl of Erroll einen Besuch abzustatten …«
Nun spürte ich wieder das vertraute Kribbeln zwischen den Schulterblättern.
Das Dokument schilderte alles ganz genau: das Versprechen von Captain Gordon an den Earl, sich fünfzehn
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