Das schwarze Blut
er die behelfsmäßigen Verbände ab und öffnete dem Tod eine Schleuse nach der anderen.
Als Mark noch näher herantrat, fiel ihm auf, dass zwischen den langen Haaren, die das gesenkte Gesicht vollständig bedeckten, einzelne Strähnen verfilzt und hart wirkten, wie Rastalocken. Mit großer Behutsamkeit fasste er unter Vincents Kinn und hob seinen Kopf.
Der Mörder hatte ihm die Augen herausgerissen und in die leeren Höhlen Filmrollen gerammt. Nach einer weiteren Sekunde begriff Mark, dass der Kopf des Toten in einer bestimmten Achse ausgerichtet war: Das augenlose Gesicht »betrachtete« etwas, das sich hinter Mark befand.
Er drehte sich um und sah jetzt die Blutspuren auf dem Boden rund um die farbigen Papierbahnen. Er riss sie eine nach der anderen hoch, und auf der letzten, blassvioletten, las er die Fortsetzung der Botschaft. Mit dem Blut seines Opfers hatte der Mörder geschrieben:
SEHEN IST NICHT GLEICH WISSEN!
Mark fuhr zurück und prallte dabei gegen die Leiche. Der gesamte Raum begann zu schwanken, die Sinne drohten ihm zu schwinden. Im letzten Moment hielt er sich an der Schulter seines gemarterten Freunds fest. Bei diesem flüchtigen Kontakt entfuhr ihm ein Schrei – ein Aufschrei aus der Tiefe, der seit dem Besuch bei Alain in ihm steckte. Er konnte nicht mehr aufhören. Vornübergebeugt schrie er seine Angst, seine Wut, seinen Hass hinaus. Er schrie, bis ihm die Stimme versagte.
Dann fiel er auf die Knie und krümmte sich schluchzend über den blutverschmierten Fotos zusammen, die ringsum den Boden bedeckten.
Erst in diesem Augenblick begriff er den Sinn der Botschaft. Sämtliche Fotos stammten von ein und derselben Person:
Khadidscha.
Hatte Vincent ihre Adresse verraten? Bestimmt.
Was hatte er wohl sonst noch gesagt? Nichts. Er wusste janichts. Beim Gedanken an die sinnlosen Qualen, die Vincent hatte ausstehen müssen, spürte Mark eine neuerliche Aufwallung hemmungslosen Schluchzens – doch er riss sich zusammen.
Vielleicht war es ja noch nicht zu spät … Vielleicht konnte er Khadidscha noch retten!
Er stand auf, ging zu Vincents Schreibtisch hinüber und nahm den Telefonhörer ab. Khadidschas Handynummer war eingespeichert. Sie meldete sich nicht. Mark dachte an Marine, ihre persönliche Visagistin. Auch deren Nummer war eingespeichert. Marine meldete sich nach dem dritten Signal.
»Mark! Na so was. Wie geht’s?«
Er warf einen Blick auf Vincents leere Augenhöhlen, auf die blutige Inschrift, auf die blutverklebten Fotos von Khadidscha.
»Geht so«, sagte er.
»Wieso rufst du an?«
Er kehrte dem Massaker den Rücken und bemühte sich, seine Stimme zu festigen.
»Ich suche Khadidscha.«
»Hohoho …«, gluckste die Visagistin.
»Weißt du, wo sie ist?«
»Hier, bei mir. Wir sind mitten in den Aufnahmen.«
Die Erleichterung löste etwas in ihm, etwas Fernes, tief unten in seiner Brust.
»Wo seid ihr?«
»Im Studio Daguerre.«
»Wo ist das?«
»Rue Daguerre 56, aber …«
»Ich bin gleich da.«
»Die Session ist noch nicht zu Ende, ich …«
»Ich komme.«
Mark wollte schon auflegen, als ihm noch etwas einfiel: »Hat sie heute Nachmittag einen Anruf bekommen? Auf dem Handy?«
»Weiß ich doch nicht. Wieso?«
»Hör mir gut zu. Sie darf auf keinen Fall ans Telefon gehen, bis ich bei euch bin. Sie darf ihre Mailbox nicht abhören. Niemand darf mit ihr reden, außer das Aufnahmeteam. Verstanden?«
Marine kicherte. »Du wirst ja richtig besitzergreifend. Sie wird ü-ber -glücklich sein!«
KAPITEL 79
Die Aufnahmebühne war rundum von Reflektoren umstellt, hohen, aluminiumbeschichteten Schirmen, die den Raum mit einem silbrigen, unwirklichen Licht erfüllten – einer Atmosphäre wie in einem Raumschiff.
Die perfekte Ausleuchtung des Studios bereitete den fünf technischen Assistenten, die kreuz und quer durcheinander rannten und letzte Hand anlegten, nicht wenig Kopfzerbrechen. Kein einziger Scheinwerfer war auf die Bühne gerichtet, sie bestrahlten allesamt in ausgeklügelten Winkeln die Reflektoren, sodass ein gleichmäßiges indirektes Licht entstand.
Es herrschte ein so konzentriertes, professionelles Schweigen wie bei einem riskanten chirurgischen Eingriff: Hier tagte ein Konsilium von Experten. So diskret wie möglich wagte sich Mark bis an den Saum dieser gleißenden Lichtung.
In der Mitte stand Khadidscha, allein, im weißen Licht. Angetan mit einem Overall aus einem fließenden silbernenGewebe glich sie einem extraterrestrischen Wesen, das vom Planeten der Vollendung herabgestiegen
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