Das schwarze Blut
Herr zu werden versuchten.
Ein Lieutenant hatte ihnen versprochen, sich so bald wie möglich ihr Anliegen anzuhören. Mark hatte sich beherrscht und darauf verzichtet, seine Rolle als »Hauptbelastungszeuge« in einem »außergewöhnlichen Mordfall« auszuspielen. Dafür war er viel zu niedergeschlagen. Ansonsten war er weder irritiert noch ungeduldig – er stand einfach völlig neben sich. Gedämpft und schrill zugleich drang die Realität zu ihm durch, alle Laute traten fremd und dumpf an sein Ohr, wie Schallwellen auf dem Grund eines tiefen Bassins. Die Geräusche und Gerüche des Polizeireviers erreichten ihn wie durch dicke Wände aus Wasser.
Dennoch kamen ihm jetzt, nachdem die Not und die Panik der vergangenen Nacht allmählich verebbten, die unabweislichen Tatsachen zu Bewusstsein, die er bis dahin ausgeblendet hatte. Erst jetzt ermaß er, wie gründlich er sein Leben ruiniert hatte. Der qualvolle Tod von Alain, von Vincent: Das war eine Schuld, an der er seine Lebtage tragen würde. In der vergangenen Nacht hatte er den Helden gespielt, den kampfbereiten Samurai. Nichts davon war geblieben – jetzt war er sicher, dass der Tod auf ihn wartete.
An diesem Morgen war er noch immer am Leben.
Und er würde büßen müssen.
Nicht mit Blut und Todesqualen, sondern mit demDurchschreiten einer schmalen Tür, hinter der es kein Zurück gab – der Tür zum Büro eines Untersuchungsrichters, eines Staatsanwalts, der Tür einer Gefängniszelle. Die einzig berechtigte Frage, die er sich noch zu stellen vermochte, war: Warum war er nicht früher zur Polizei gegangen? Hätte er damit den Tod von Alain und Vincent abwenden können?
Noch eine Frage trieb ihn um: Warum hatte ihnen Reverdi nicht schon in der vergangenen Nacht den Garaus gemacht? Mark konnte nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich abgehängt hatten. Nein, der Mörder war ihnen auf den Fersen. Er hatte sie die ganze Nacht im Visier behalten. Aber warum? Worauf wartete er noch?
Khadidscha stand auf.
»Wo willst du hin?«
»Aufs Klo. Darf ich?«
»Nein.«
»Spinnst du?«
Sie deutete auf die Beamten, uniformiert und in Zivil, die mitVernehmungsprotokollen in der Hand durcheinander hasteten. »Hier drin kann uns ja wohl nichts passieren, oder?« Mark ließ sie durch den Korridor davongehen. Beim Anblickder Handschellen, der Revolverläufe, der silbernen Polizeiplaketten beruhigte er sich wieder. Er lehnte sich an die Wand. Wie eine lauwarme Welle schlug die Müdigkeit über ihm zusammen, seine Lider wurden schwer. Die schlaflose Nacht rächte sich. Aber er durfte nicht einschlafen, auf keinen Fall …Er fuhr auf.
Jetzt war er doch eingenickt. Hatte sogar tief geschlafen. Er blickte auf die Uhr: zehn Uhr vorbei. Er sah sich um: Das Gedränge ringsum wurde immer schlimmer, aber von Khadidscha keine Spur. Hatte sie ohne ihn mit der Aussage begonnen? Unmöglich.
Er sprang auf und befragte das Wachpersonal. Niemand hatte Khadidscha gesehen. Er erkundigte sich nach den Toiletten und kam durch einen Flur, der vergleichsweise leer war. Er bog um eine Ecke und befand sich auf einmal ganz allein zwischen weißen Neonröhren, schmutzigen Rohren, vergitterten Fenstern. In diesem Revier gab es Toiletten für beide Geschlechter, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite. Und kein Mensch weit und breit.
Er öffnete die Tür zur Damentoilette und rief: »Khadidscha?«
Statt einer Antwort hörte er eine Spülung rauschen. Links waren die Kabinen, rechts die Waschbecken mit den Spiegeln darüber.
»Khadidscha?«
Eine Kabinentür öffnete sich, eine uniformierte Polizeibeamtin kam heraus und warf ihm, während sie auf die Waschbecken zuging, einen missbilligenden Blick zu. Mechanisch wandte er sich ab und betrat den Vorraum der Männertoilette. Er hörte das Plätschern von Wasser, dann das Rattern des Handtuchspenders. Ungeduldig ging er auf und ab und wartete, dass die Beamtin auf den Flur herauskam.
Als sie vorbeiging, rief er sie an: »Entschuldigung! … Haben Sie vielleicht eine dunkelhaarige junge Frau gesehen, sehr groß, sehr hübsch? Sie ist vorhin aufs Klo gegangen und nicht mehr zurück- …«
Bei den Worten »groß« und »hübsch« warf die Polizistin kaum merklich den Kopf in den Nacken. Sie war nicht größer als einen Meter fünfzig und trug ein bemerkenswertes Hinterteil zur Schau. Wortlos rückte sie ihre Uniformhose zurecht und entfernte sich mit schaukelnden Hüften.
Mark war wieder allein. Er wagte sich abermals in die Damentoilette. Der
Weitere Kostenlose Bücher