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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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von Sophie?«
Er zuckte zusammen, als hätte ihn ein Funken getroffen.
»Woher weißt du von ihr?«, fragte er schließlich.
»Vincent.«
Er nickte langsam. Das Wesentliche an der Geschichte war ihr also bekannt. Er flüsterte, und seine Worte vermischten sich mit dem Knistern der Flammen: »Ich habe zweimal dem Tod gegenübergestanden. Einem gewaltsamen, blutigen Tod. Für ein normales Leben zwei Mal zu oft. Beim ersten Mal war ich sechzehn; damals hat sich mein bester Freund, ein Musiker, in der Schultoilette die Pulsadern aufgeschnitten. D’Amico hieß er. Der vielversprechendste Cellist, den ich je kannte. Ich habe seine Leiche gefunden. Beim zweiten Mal war es Sophie. Sie war … wie soll ich sagen …«
Die Stimme versagte ihm. Khadidscha kam ihm zu Hilfe: »Vincent hat’s mir erzählt. Aber deine Reaktion verstehe ich nicht. Wieso verfolgst du das Verbrechen, wieso versuchst du nicht lieber, das alles zu vergessen?«
»Ich weiß nicht … Diese beiden Erlebnisse waren merkwürdig faszinierend. Seither übt der Tod eine morbide Anziehungskraft auf mich aus. Ich will vor allem wissen, ich will es begreifen. D’Amicos Tod hat mit dem kriminellen Trieb nichts zu tun, aber er war wie der Auftakt dazu. Das Vorzimmer des Grauens. Sophies Leiche war der Gipfel, der absolute Horror. Und total unverständlich. Wie ist so was möglich? Wie kann jemand so etwas tun? Verstehst du – für mich waren diese Ereignisse wie ein Fingerzeig. Ich fühlte mich auserwählt – aufgerufen, der wahren Natur des Verbrechens und der Gewalt auf den Grund zu gehen. Und ich glaube, ganz tief in meinem Inneren hat es auch etwas mit Schuldgefühlen zu tun.«
»Wie das?«
Mark antwortete nicht gleich. Er stieß hier in die tiefsten Schichten seines Wesens vor, in Bereiche, über die zu sprechen er nie gewagt hatte.
»Als ich die Leiche meines Freundes und später Sophies Leiche fand, habe ich das Bewusstsein verloren. Ich habe mich der Welt entzogen. Denn es waren keine kurzen Ohnmachten: Es war ein echtes Koma. Sechs Tage beim ersten Mal, drei Wochen das zweite Mal. So etwas kommt bei schweren Traumata anscheinend vor. Bei mir hat dieses Koma allerdings auch einen retrograden Gedächtnisverlust bewirkt.«
»Das heißt?«
»Die Entdeckung der Leiche und die Stunden unmittelbar davor sind völlig ausgelöscht. Als hätte sich mein Bewusstsein für einen bestimmten Zeitraum ausgeblendet, verstehst du?«
»Was ich nicht verstehe, sind deine Schuldgefühle.«
Mark schrie fast. »Eben weil ich nicht weiß, was ich unmittelbar vorher getan habe!« Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Vielleicht hätte ich es verhindern können … Vielleicht bin ich sogar schuld an dem, was passiert ist! Vielleicht habe ich zu d’Amico etwas gesagt, das ihn tief, zu tief gekränkt hat. Und Sophie – wieso bin ich nicht bei ihr geblieben, wieso habe ich sie allein gelassen? Ich weiß es nicht! Du lieber Gott, ich weiß nicht mal mehr, was die letzten Worte waren, die wir miteinander gesprochen haben …«
Khadidscha schwieg. Das Feuer knisterte. Sekunden vergingen.
»Jedenfalls«, sagte Mark schließlich in entschiedenem Ton – und war sich bewusst, dass er mit ein paar Worten sein Schicksal zusammenfasste –, »war ich ihnen beiden, Sophie und d’Amico, diese Ermittlung schuldig. Ihr Tod ist eine schwarze Leere in meinem Kopf. Ich hatte das Gefühl, dass ich, um diese totale Verdrängung in ihrem Fall wieder gutzumachen, die Wahrheit über den Tod, das Blut, das Böse aufdecken muss. Ich weiß nicht, wer Sophies Mörder ist. Niemand hat je eine Spur von ihm gefunden. Aber ich bin wenigstens dem Vernichtungstrieb näher gekommen, der sie getötet hat. Es ist dieselbe Kraft, die alle Mörder antreibt: Zum ersten Mal habe ich sie nicht nur von außen zur Kenntnis genommen, sondern von innen her einen Blick auf sie geworfen. Dank Reverdi.«
Khadidscha richtete sich auf. Marks letzte Worte erinnerten sie an etwas. »Diese Botschaft vorhin auf dem Bettlaken: VERSTECK DICH SCHNELL, PAPA KOMMT – was soll das bedeuten?«
»Ich weiß es nicht. Das ist der eine dunkle Bereich an Reverdi, der mir nach wie vor ein Rätsel ist.«
»Es klingt ja wie eine Drohung: Warum?«
»Keine Ahnung. Oder vielleicht doch: weil er uns, bevor er uns umbringt, noch eine letzte Erklärung liefern will. Das ist ein Wahnsinniger, verstehst du?«
Sie gab keine Antwort. Die Hände rückwärts aufgestützt, den Kopf zwischen den Schultern, sah sie Mark eindringlich an. Die

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