Das schwarze Blut
Hemdkragen über der blauen Wolle hatte er trotz seines von Falten durchfurchten Gesichts etwas von einem Musterschüler.
Ein alter Italiener mit Tränensäcken unter den Augen und tiefer, sonorer Stimme deutete mit seinen Essstäbchen – es war ein Sushi-Abend – auf den begeisterten Reporter und verkündete:
»Mir scheint, du warst zu lang in Italien.«
Mit der Miene des unverstandenen Visionärs kommentierte der Abenteurer den Einwand mit einer wegwerfenden Geste.
»Das liegt an den Konservierungsstoffen.«
Nun richteten sich sämtliche Blicke auf die Frau, von der die Bemerkung gekommen war: eine magere Blondine mit stumpfen Haaren, deren langes Gesicht an ein Löffelbiskuit erinnerte.
»Was denn für Konservierungsstoffe?«, gab der Journalist zurück. »Der Papst ist nicht einbalsamiert worden.«
»Ich rede von den Konservierungsstoffen im Essen. Wir nehmen sie in solchen Mengen zu uns, dass wir am Ende selbst davon konserviert werden … Unsere Leichen zersetzen sich nicht mehr. Das ist wissenschaftlich bewiesen.«
Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann brachen alle wie auf Kommando in einhelliges Gelächter aus.
»Das ist kein Witz!«, beharrte die Blondine aufgebracht. »Es gibt Untersuchungen darüber …«
Ihr Einwand ging unter, denn jetzt kam Vincent herein, in den Händen eine Karavelle aus hellem Holz, auf der sich die Sushis türmten. Die Deckplanken bestanden aus Maki-Rollen, die Reling aus Lachsscheiben, und die Segel bildeten Tangblätter.
»Wie wär’s, wenn ihr mit dem Quatsch aufhört? Khadidscha wird euch für noch dekadenter halten als die Modefritzen!«
Mehrere Blicke hefteten sich auf sie. Die Gäste saßen auf Kissen rund um einen langen niedrigen Tisch in der Mitte des Fotostudios. Vincent hatte schon bei der Einladung gewarnt: »Stühle gibt’s nicht, das wird ein japanischer Abend.«
Wie so oft rang Khadidscha verzweifelt nach einer geistreichen, scherzhaften Erwiderung, doch wieder fiel ihr nichts ein. Sie lächelte vage und wartete errötend, dass jemand das Thema wechselte.
Zum wiederholten Mal fragte sie sich, weshalb Vincent sie eingeladen hatte. Wollte er was von ihr? Nein, das war es wohl nicht. Der berühmte Modefotograf und Spezialist für Unschärfe hatte sie unter seine Fittiche genommen, und sie kam in den Genuss seines Großprojekts »Markteroberung«: Er behauptete ja, er werde ein Topmodel aus ihr machen. Immerhin waren seine Fotos großartig, das musste sie zugeben. Nebelhaft und fremdartig.
»Was sagen Sie denn dazu?«
Khadidscha zuckte zusammen. »Wie bitte?«
»Zum tschetschenischen Terrorismus: Wie denken Sie darüber?«
Sie hatte schon wieder ein Kapitel verpasst. Ihr Tischnachbar, ein Glatzkopf mit Haarkranz, der an einen römischen Kaiser erinnerte, fixierte sie.
»Nun …«
Krampfhaft auf ihre Stäbchen konzentriert, stammelte sie eine Antwort. Sie hatte sich für den Irakkrieg gewappnet – auf das Thema Ausweitung des islamistischen Terrors war sie nicht vorbereitet. Ihr Unbehagen wuchs. Der intensive Geruch nach Algen und rohem Fisch schnürten ihr die Kehle zu. Sie hasste Sushi.
Und doch hatte sie, bei aller Entmutigung, einen Grund, sich zu freuen.
Er war da, saß am anderen Ende des Tisches.
Mark Dupeyrat. Der einsame Verliebte, der ihr Foto geklaut hatte, hier in diesem Raum; einen Monat war das jetzt her. Er wirkte verstockter denn je, verschanzte sich hinter seinen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen, und seinem scheußlichen Schnurrbart. Er hatte sie keines Blickes gewürdigt. Schüchternheit? Verwirrung?
Seit dem Diebstahl des Fotos hatte sie sich einen ganzen Film in ihrem Lieblingsgenre ausgedacht: Sie besaß eine Sammlung alter VHS-Kassetten von diesen ägyptischen Musikkomödien, ein Vermächtnis ihrer Großmutter, die in den sechziger Jahren in kleinen Rollen aufgetreten war – romantische Geschichten, in denen jeder wegen nichts und wieder nichts zu singen anfing und am Ende immer die Liebe siegte und überhaupt alles gut wurde und die Männer schön, gut und pomadisiert waren … Für einen Film dieses Genres war ein entwendetes Foto ein wunderbarer Aufhänger. Khadidscha stellte sich vor, wie Mark zu Hause in seiner Wohnung ihr Bildnis ansang. Oder zaudernd vor dem Telefon saß und nicht wagte sie anzurufen. Oder beim Kneipenbesuch mit Vincent diskret das Gespräch auf sie lenkte. Zu dem Sushi-Abend war sie mit der vagen Hoffnung gekommen, ihn wiederzusehen. Und jetzt stand sie vor einer Mauer.
Das Essen neigte sich dem Ende zu. Jetzt oder
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