Das schwarze Blut
italienische Herkunft und seine wehende schwarze Mähne. Ursprünglich Cellist, hatte er sich bald auf exotischere Saiteninstrumente verlegt – die peruanische Gitarre, die Balalaika, die mongolische Viola … In seinen Augen kam der Musik eine kabbalistische Funktion zu, nämlich den geheimen Sinn des Universums zu enthüllen. Mark entsann sich seiner morgendlichen Fragen im Mathematikunterricht: »Wie lässt sich das Böse ausdrücken? Durch die Chromatik. Die Halbtöne stehen für das Hingleiten zu Thanatos …« Und an seine Vorliebe für die übermäßige Quinte, die man die »Teufelsquinte« nennt. Den Stücken, die er komponierte, gab er Titel wie »Verhängnisvolle Leidenschaft«, »Geisteroratorium« oder »Verleumdungskantate«: eine Anhäufung von Brüchen und Dissonanzen.
D’Amico beteiligte sich in allen Fächern begeistert am Unterricht. Er zeigte ständig auf, und wenn es Vorträge zu verteilen gab, meldete er sich immer als Erster. Mark sah ihn noch vor sich, wie er auf dem Podium der verblüfften Klasse das Finale des zweiten Klavierkonzerts von Prokofjew vorspielte, während er mit aufgeblasenen Backen und geöffneten Handflächen das Nebelhorn mimte, das die Stakkatoläufe auf dem Klavier übertönte. Oder wie er im Literaturunterricht ein Referat über Howard Phillips Lovecraft hielt und mit erhobenem Zeigefinger und finsterem Blick auf die Lehrerin, als wäre sie für alles verantwortlich, was er von sich gab, verkündete: »Lovecraft war ein Müllmann! Ein Müll -mann! Kein Mensch hat ihn je verstanden!«
D’Amico hatte es fertig gebracht, sich bei allen außer Mark unbeliebt zu machen. Seine hektische Aufgeregtheit, sein völlig unkalkulierbares Verhalten, seine absurden Ideen stießen bei den anderen auf Unverständnis, ja sogar Hass. Seine Manierismen steigerten noch das Unbehagen, das er allenthalben auslöste: Wenn er lachte, war sein Gelächter immer zu laut und pflegte jäh abzubrechen. Wenn er witzig zu sein versuchte und seine Scherze nicht ankamen, verlor er die Beherrschung und flippte aus wie ein ungezogenes Kind. Er gefiel sich in immer bizarreren Macken. So trug er seine Stiefel aus schlechtem Leder grundsätzlich mit offenem Reißverschluss. Wenn er sich schnäuzte, studierte er ausgiebig den Auswurf, bevor er das Taschentuch sorgsam faltete und wieder einsteckte. Beunruhigender war, dass er sich nie von seinem Messer trennte – einem uralten Rasiermesser mit Horngriff, das er seinem Vater, einem Friseur in Bagnolet, entwendet hatte. Eine Zeit lang sah man ihn im Hof in einer Ecke sitzen und bedächtig die Seiten seines Kultbuchs Der Mönch von Matthew Gregory Lewis aufschneiden. Die jungen Erbinnen nannten ihn Jack the Ripper.
Schließlich war es das Rasiermesser, das die Logik seiner Person ausmachte. Fast dreißig Jahre danach stellte sich Mark noch immer dieselbe Frage: Hätte er es vorhersehen können? Hätte er erkennen müssen, was diese Waffe bedeutete, von der sich d’Amico niemals trennte? Die eigentliche Frage lautete: Wie lange braucht der menschliche Körper, um vollständig auszubluten?
Mark hatte sich eine ganze Schulstunde lang, fünfundvierzig Minuten, Sorgen wegen der Abwesenheit seines Freunds gemacht. Auf dem Weg zum Krankenzimmer hatte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Toilette am Ende des Korridors im dritten Stock betreten. Er war an den Waschbecken vorbeigegangen und hatte mehrere Türen aufgestoßen, bis er schließlich in der letzten Kabine die Stiefel mit den offenen Reißverschlüssen entdeckte. Dort lag d’Amico, an die Klosettschüssel gelehnt, in einer Blutlache. Statt den Geografieunterricht zu besuchen, hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und als letzte trotzige Geste hatte er den Stiel der Klobürste im Mund – eine Provokation ganz in seinem Stil, also unverständlich.
Es gab wohl eine Erklärung dafür, Mark erfuhr sie später von Debannier, dem Renaissanceexperten, der d’Amico in die Freuden der Homosexualität eingeführt und auf Gegenliebe gestoßen war. Vielleicht zu sehr: Bei der Vorstellung, seinen Eltern – einem Macho-Friseur und einer bigotten Mutter – die Wandlung gestehen zu müssen, habe er es offensichtlich vorgezogen, sich endgültig zu verabschieden.
Das klang Mark nicht überzeugend: D’Amico hätte ganz bestimmt keine Angst gehabt, sich vor seinen Eltern zu outen, im Gegenteil – hatte er doch nie eine Gelegenheit ausgelassen, sie zu schockieren. Im Übrigen zweifelte Mark nicht daran, dass die
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