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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Mann: um seine Scheidung.« In betrunkener Kumpanei legte er ihm den Arm um die Schulter. »Von einer Scheidung erholt man sich nie mehr, das sag ich dir …«
Mark begriff endlich, wem – oder was – er seine entsetzliche Nacht verdankte. Alang war ein verlassener Ehemann: eine offene Wunde, die sich nicht mehr schloss.
Erst um vier Uhr morgens, als sie bei Technoklängen im Souterrain eines großen Hotels saßen, fragte er endlich:
»Was genau willst du denn wissen?«
Mark hatte sich zuvor eine Reihe von Fragen zurechtgelegt, mit denen er nach und nach und sehr dezent auf die Fotos der gewaschenen Leiche von Pernille Mosensen zusteuern wollte. Doch nach den vergangenen Stunden und dem steigenden Alkoholpegel konnte er nur noch sagen:
»Ich will die Leiche des Opfers sehen.«
»Die ist längst unter der Erde, zu Hause in Dänemark.«
»Ich meine die Fotos. Die Aufnahmen der Leiche. Im gewaschenen Zustand.«
In der von Lichtblitzen zerrissenen Dunkelheit beugte sich Alang nahe zu ihm: »Von wem hast du den Tipp?«
Mark wurde schlagartig nüchtern. Wie eine eiskalte Sonde fuhr es durch ihn hindurch. Eine entscheidende Entdeckung lag vor ihm – schon in Reichweite.
»Von niemandem«, log er. »Ich will nur … mein Dossier vervollständigen.«
Alang stand auf und schlug Mark mit der Hand auf den Rücken.
»Na, dann komm, du wirst nicht enttäuscht sein!«
KAPITEL 35
    Es war eine Zeichnung.
Ein klares, aus Wunden gebildetes Muster.
Mark sah auf den ersten Blick, was Elisabeth erkennen sollte.
    Die zahlreichen Schnitte waren perfekt aufeinander abgestimmt. Sie stellten eine anatomische Schemazeichnung dar, bestehend aus horizontalen Einschnitten, die an den Schläfen begannen, die Kehle beiderseits oberhalb des Schlüsselbeins querten, sich dann entlang der Arme fortsetzten – Bizeps, Armbeuge, Handgelenke … Auf der Rückseite setzte das Muster unter den Achseln an, umrundete die Lungenflügel, verjüngte sich an den Hüften und führte anschließend über die Genitalregion abwärts, die Beine hinab.
    Das Muster erinnerte an die gestrichelten Linien in Schnittmustern, mit denen die Modellzeichner anzeigen, wo der Stoff geschnitten und genäht werden muss …In den Presseberichten war von siebenundzwanzig Messerstichen und der Grausamkeit des Mordes die Rede gewesen. Wie jeder andere war auch Mark von einer Tat zielloser, willkürlicher, anarchischer Grausamkeit ausgegangen. Das Gegenteil war der Fall: Die gewaschene Leiche trug eindeutig die Spuren eines methodischen, sorgfältigen Tuns.
    Trotz der vorgerückten Stunde und seiner Übelkeit war Mark wieder bei völlig klarem Bewusstsein. Diese Fotos hatten die Karten ganz neu gemischt. Reverdi war kein Triebtäter, der aus einem Anfall heraus handelte: Er hatte sich Zeit gelassen, um diese abstoßende Zeichnung anzufertigen – und die Marter hatte Stunden gedauert.
    »Das ist die Blutbahn, Mann.«Mark blickte auf. Sie waren in Alangs Büro im Allgemeinen Krankenhaus von Kuala Lumpur: wenige mit Akten vollgestopfte Quadratmeter, die von der Klimaanlage eisgekühlt waren. In der Ferne ertönte der Gesang der Muezzine. Es war Freitagmorgen: Die Stadt summte von den Gebeten.
    Der Mediziner, der sich in seinen Sessel hatte fallen lassen, biss in einen Riegel Schokolade.
»Die Blutbahn«, wiederholte er. »Reverdi ist dem Netz der Adern gefolgt.«
Der Weg des Lebens, dachte Mark.
»Was heißt das genau?«, fragte er.
Alang stand auf und umrundete den Schreibtisch. Mit der Schokolade deutete er auf das Foto; Sesamkörner rieselten auf das Hochglanzpapier.
»Hier in der Halsgrube: die Drosselvenen. Unter den Achseln: die Armvenen. Im Schritt: die Beinvene, Vena iliaca. In den Schenkeln: Vena femoralis. Und so weiter – ich könnte dir sämtliche Namen aufzählen. Er hat jede wichtige Vene aufgeschnitten. Die Arterien hingegen hat er sorgfältig gemieden.«
»Warum?«
Alang setzte sich wieder. Seine Gleichgültigkeit passte zur Kälte im Raum.
»Er hat sie ausbluten lassen. Bei lebendigem Leib. Und das Vergnügen sollte so lang wie möglich dauern. Hätte er in eine Arterie geschnitten, wäre das Blut in einem Schwall herausgeschossen und Schluss. In den Venen ist der Blutdruck viel geringer, da fließt das Blut langsamer. Aus diesem Grund hat er auch einen Bogen um Herz und Lunge gemacht: Die Maschine sollte bis zum Schluss funktionieren.«
»Und wie hat er das konkret gemacht?«
Alang mimte die Gesten mit seiner Schokolade:
»Er hat sein Tauchermesser waagrecht an die

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