Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
diese ganze Aufmerksamkeit an seinem zurückhaltenden Wesen lag? Jedenfalls achtete ich nicht weiter auf sein Unbehagen. Während er versuchte, das Rampenlicht zu meiden, sonnte ich mich in seinem Ruhm. Damals, als ich mich durch die Straßen der Stadt geschlichen hatte, war ich niemand. In Pagus Parvus war ich der Prinz neben König Joe. Natürlich war es Joe, mit dem alle sprechen wollten, seine Hand wollten sie schütteln, aber sie sprachen auch mit mir, und sei es nur, um mir einen guten Morgen zu wünschen. Dann musste ich jedes Mal grinsen. In der Stadt wären sie bei meinem Anblick auf die andere Straßenseite gegangen.
Vielleicht war es die abgeschiedene Lage des Ortes, die Joe (und mich) zu etwas Besonderem machte. Doch besondersoder nicht, ich hatte so eine Ahnung, dass uns das nicht viel nützen würde, solange Jeremiah Ratchet in Pagus Parvus lebte.
Unsere Tage waren immer ausgefüllt. Ich hatte meine Aufgaben, und Joe hatte seine, aber wir waren nie in Eile. Das Leben in Joes Laden war manchmal wie ein Leben in einer anderen Welt, in der alles mit halber Geschwindigkeit vor sich geht. Nie habe ich von Joe eine hastige Bewegung gesehen; es gab nichts Dringliches in seinem Leben, und dennoch ließ sich nur schwer die Vorahnung abschütteln, dass wir auf irgendein Ereignis warteten.
Am späten Nachmittag, wenn Ruhe eingekehrt war, wenn Polly und die Jungen aus der Bäckerei hier gewesen und wieder gegangen waren, saßen wir oft am Kaminfeuer und genossen die Wärme und Behaglichkeit, die es ausstrahlte. In solchen Stunden konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder in die Stadt zurückzukehren.
»Ich gehe nie wieder zurück«, sagte ich eines Abends zu Joe.
»Sag niemals nie«, erwiderte er schnell. »Alles ändert sich.«
Geändert hatte sich ganz bestimmt mein Schicksal. Für mich war Joe der Vater, den ich mir immer gewünscht hatte. Ich trug neue Kleider, die er mir geschenkt hatte. Mit Vergnügen sahen wir zu, wie meine alten Fetzen im Kaminfeuer verbrannten. Mindestens alle zwei Wochen durfte ich mich vor dem Feuer in eine große Zinkwanne setzen, die bis zum Rand mit warmem Wasser gefüllt war. Und jeden Tag hatten wir zwei ordentliche Mahlzeiten. Die Leute aus Pagus Parvus zeigten sich sehr gastfreundlich uns gegenüber, und es verging kaum ein Tag, ohne dass ein Esspaket auf unserer Eingangstreppe lag: Kaninchen, Tauben, Spatzen (köstlich gefüllt mit Zwiebeln und Lauch, eine Delikatesse in dieser Gegend) und gelegentlich ein ganzes Hähnchen vom Fleischer.
»Bestechungsgaben«, sagte Joe lachend. »Sie glauben, wenn sie für meine Ernährung sorgen, werde ich mir die Sache mit Ratchet anders überlegen.« Er änderte seine Meinung nicht, aber das Fleisch steckte er trotzdem in den Kochtopf.
Nach und nach verloren die Erinnerungen an mein früheres Leben an Schärfe, stattdessen spielte mir mein Verstand jetzt seltsame Streiche. Ich fing an, darüber zu grübeln, ob das Leben es nicht zu gut mit mir meinte. Ein Junge wie ich, einer mit meiner Vergangenheit, einer mit so vielen Gaunereien auf dem Gewissen, der verdiente doch wohl Bestrafung und nicht Belohnung? Joe versuchte, mich zu beruhigen.
»Es ist ganz normal, so zu denken«, sagte er. »Zu glauben, man habe sein gutes Schicksal nicht verdient. Aber hast du vergessen, was ich dir über das Glück gesagt habe?«
»Ihr habt gesagt, wir können selbst etwas zu unserem Glück tun.«
»Richtig. Du hast zu deinem Glück beigetragen, indem du hierhergekommen bist. Jetzt arbeitest du und verdienst, was du hast.«
»Aber ich hatte nie vor, hierherzukommen«, bohrte ich weiter. »Es war Zufall, dass ausgerechnet Ratchets Kutsche vor dem Flinken Finger stand.«
»Aber es war deine Entscheidung, gerade auf diese Kutsche aufzuspringen.«
»Was, wenn ich in jener Nacht den Berg abwärts-statt aufwärtsgegangen wäre? Dann würde ich jetzt vielleicht in der Schmiede bei Job Wright Pferde beschlagen. Dann hättet Ihr einen der Sourdoughs angestellt, damals, als sie zum ersten Mal in den Laden kamen, um sich den Frosch anzuschauen.«
»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Joe. »Aber die Sourdough-Jungen sind schwer von Begriff.«
»Ich kann auch nur lesen und schreiben, weil ich oft bei Mr Jellico war.«
»Aber es war deine Entscheidung, zu ihm zu gehen.«
Und so ging es weiter, immer im Kreis herum. Eines Abends fragte Joe: »Bist du glücklich hier?«
»Ja.«
»Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest: Was hättest du damals in der
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