Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
Landing vorbei. Jack hat fast genau die Stelle erreicht, an der Henry heute Morgen Dirtysperm den Stecker herausgezogen hat. Natürlich kann er den Aschenbecher aufziehen. Nichts leichter als das. Man schiebt einfach die Finger unter den überstehenden Rand und zieht. Die einfachste Sache der Welt. Er streckt eine Hand aus. Bevor er die Blende mit den Fingerspitzen berührt, reißt er die Hand aber wieder zurück. Schweißperlen rollen ihm über die Stirn hinunter und verfangen sich in den Augenbrauen.
»Nichts dabei«, sagt er laut. »Hast du irgendein Problem damit, Jacky-Boy?«
Jack streckt die Hand wieder nach dem Aschenbecher aus.
Als er plötzlich merkt, dass er mehr auf die Unterkante des Armaturenbretts als auf die Straße achtet, sieht er auf und verringert sein Tempo sofort um die Hälfte. Aber er weigert sich, ganz anzuhalten. Um Himmels willen, hier geht’s bloß um einen Aschenbecher. Er berührt die Blende und schiebt die Finger in die Aussparung. Jack sieht nochmals auf die Straße. Dann reißt er die kleine Schublade mit der Entschlossenheit einer Krankenschwester heraus, die einem Patienten ein Pflaster vom behaarten Bauch abreißt. Der Zigarettenanzünder, den er an diesem Morgen vor seinem Haus unabsichtlich gelockert hat, springt eine Handbreit in die Luft und erscheint vor Jacks entsetztem Blick wie ein fliegendes schwarz-silbernes Ei.
Er kommt von der Straße ab, holpert über den verunkrauteten Seitenstreifen und hält auf einen vor ihm aufragenden Telefonmast zu. Der Zigarettenanzünder plumpst mit einem lauten metallischen Knall, den kein Ei der Welt hätte hervorbringen können, in den Aschenbecher zurück. Der Telefonmast kommt näher und füllt schon fast die Windschutzscheibe aus. Jack tritt das Bremspedal durch, kommt schleudernd zum Stehen und löst damit im Aschenbecher eine Serie von Klapperund Rattergeräuschen aus. Hätte er sein Tempo nicht schon verringert, bevor er den Aschenbecher aufgezogen hat, wäre er an den Mast geknallt, der jetzt keine eineinhalb Meter vor dem Kühler des Pickups aufragt. Jack wischt sich den Schweiß vom Gesicht und greift nach dem Zigarettenanzünder. »Mist, verdammter!« Er lässt den Anzünder in seine Halterung einrasten und sinkt in den Sitz zurück. »Kein Wunder, dass Rauchen einen umbringen kann«, sagt er. Der Witz ist zu schwach, um ihn zu erheitern, und er tut ein paar Sekunden lang nicht mehr, als zusammengesunken dazusitzen und den spärlichen Verkehr auf der Lyall Road zu beobachten. Nachdem der Puls auf annähernd normale Frequenz zurückgegangen ist, macht er sich vollends bewusst, dass er den Aschenbecher schließlich doch aufgezogen hat.
Der blonde, leicht zerknitterte Tom Lund lauert offenbar auf seine Ankunft. Als Jack nämlich an den drei am Eingang aufgereihten Kinderfahrrädern vorbeigeht und die Polizeistation
betritt, schießt der junge Beamte hinter seinem Schreibtisch hoch und kommt eilig auf ihn zu, um ihm zuzuflüstern, dass Dale Gilbertson und Fred Marshall in Dales Dienstzimmer auf ihn warten und er ihn gleich hineinbringen wird. Die beiden werden froh sein, ihn zu sehen, das stehe fest. »Ich bin’s auch, Lieutenant Sawyer«, fügt Lund hinzu. »Mann, das muss ich echt sagen. Was Sie können, haben wir bitter nötig, glaub ich.«
»Sagen Sie ruhig Jack zu mir. Ich bin nicht mehr Lieutenant. Ich bin nicht mal mehr ein Cop.« Jack hatte Tom Lund bei den Ermittlungen im Fall Kinderling kennen gelernt und einen guten Eindruck von Diensteifer und Pflichtbewusstsein des jungen Mannes gewonnen. Lund, der seinen Beruf, seine Uniform und seine Plakette liebt, seinen Chief als Vorgesetzten achtet und Jack ehrfürchtig respektiert, hatte ohne zu klagen Hunderte von Stunden am Telefon, bei Behörden und in seinem Wagen verbracht, um die oft widersprüchlichen Details, die das Ergebnis einer Kollision zwischen einem Saatgutvertreter aus Wisconsin und einer Berufstätigen vom Sunset Strip waren, zu überprüfen und nochmals zu überprüfen. In dieser ganzen Zeit hatte Tom Lund sich den energiegeladenen Schwung eines High-School-Quarterbacks bewahrt, der zu seinem ersten Spiel aufs Feld läuft.
So sieht er jetzt gar nicht mehr aus, bemerkt Jack. Er hat dunkle Schatten unter den Augen, und die Backenknochen treten deutlicher hervor. An Lunds schlechtem Aussehen sind aber nicht nur Schlafmangel und Übermüdung schuld; in seinem Blick liegt der hilflos verwirrte Ausdruck eines Menschen, der einen heftigen Schlag aufs Gemüt
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