Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
erlitten hat. Der Fisherman hat Tom Lund um einen Großteil seiner Jugend gebracht.
»Aber ich will zusehen, was ich tun kann«, sagt Jack und verspricht damit mehr Engagement als ursprünglich beabsichtigt.
»Wir können bestimmt alles brauchen, was Sie uns geben können«, sagt Lund. Das ist zu viel, zu servil, und als Lund sich abwendet, denkt Jack: Ich bin nicht hergekommen, um euer Erretter zu sein.
Dieser Gedanke weckt sofort Schuldgefühle in ihm.
Lund klopft an, öffnet die Tür, um Jack anzukündigen, begleitet
ihn hinein und verschwindet dann wie ein Geist, ohne von den beiden Männern überhaupt wahrgenommen zu werden, die von ihren Stühlen aufstehen und den Besucher anstarren – der eine mit sichtlicher Dankbarkeit, der andere mit einer Riesenportion desselben Gefühls, in das sich aber auch nackte Not mischt, bei der Jack noch unbehaglicher zumute wird.
Während Dale die beiden Männer etwas konfus miteinander bekannt macht, sagt Fred Marshall: »Danke, dass Sie gekommen sind, vielen Dank. Mehr kann ich nicht …« Sein rechter Arm ragt wie ein Pumpenschwengel vom Körper ab. Als Jack die angebotene Hand ergreift, verstärken die Emotionen auf Freds Gesicht sich schlagartig. Er umklammert Jacks Hand und scheint sie fast für sich zu beanspruchen, wie ein Raubtier seine Beute beansprucht. Er drückt sie unablässig. Seine Augen füllen sich mit Tränen. »Ich kann Ihnen nicht …« Marshall lässt Jacks Hand los und wischt sich die Tränen vom Gesicht. Sein Blick wirkt jetzt schutzlos und sehr verwundbar. »Mann, o Mann«, sagt er. »Ich bin wirklich froh, dass Sie gekommen sind, Mr. Sawyer. Oder sollte ich Lieutenant sagen?«
»Einfach Jack genügt. Wollt ihr beiden mir nicht erzählen, was heute passiert ist?«
Dale zeigt auf einen bereitstehenden Stuhl; die drei Männer nehmen Platz; die schmerzliche, aber im Grunde genommen simple Geschichte von Fred, Judy und Tyler Marshall wird erzählt. Fred spricht als Erster und ziemlich lange. In seiner Version der Story erliegt eine tapfere, unerschrockene Frau, eine liebevolle Ehefrau und Mutter, unerklärlichen, vielgestaltigen Störungen und Verwandlungen und lässt rätselhafte Symptome erkennen, die von ihrem ignoranten, dummen, egozentrischen Ehemann übersehen werden. Sie stößt unsinnige Wörter aus; sie schreibt verrücktes Zeug auf Notizzettel, stopft sich das Papier in den Mund und versucht es zu verschlucken. Sie sieht die Tragödie voraus, und das gibt ihr den Rest. Klingt verrückt, aber ihr selbstsüchtiger Ehemann denkt, dass das die Wahrheit ist. Genauer gesagt denkt er, dass er denkt, dass das die Wahrheit ist, weil er darüber nachgedacht hat, seit er zuerst mit Dale gesprochen hat, und obwohl das verrückt klingt,
ergibt es einen gewissen Sinn. Welche andere Erklärung könnte es sonst geben? Er glaubt also, Folgendes zu denken – dass seine Frau angefangen hat, den Verstand zu verlieren, weil sie wusste, dass der Fisherman unterwegs war. Solche Dinge sind möglich, nimmt er an. Zum Beispiel wusste die tapfere, leidende Frau, dass ihr schöner, wunderbarer Sohn verschwunden war, noch bevor der dumme, selbstsüchtige Ehemann, der wie an einem ganz normalen Tag zur Arbeit gefahren war, ihr von dem Fahrrad erzählt hat. Das war praktisch der Beweis für Freds Theorie. Der schöne kleine Junge ist mit drei Freunden weggefahren, aber nur die drei Freunde sind zurückgekommen, und Officer Danny Tcheda hat das Schwinn-Rad des kleinen Sohnes und einen seiner armen kleinen Laufschuhe auf dem Gehsteig vor dem Maxton gefunden.
»Danny Cheetah?«, fragt Jack, der wie Fred Marshall zu denken beginnt, dass er alle möglichen beunruhigenden Dinge denkt.
»Tcheda«, sagt Dale und buchstabiert ihm den Namen. Anschließend erzählt Dale seine eigene, weit kürzere Version der Geschichte. In Dale Gilbertsons Story fährt ein Junge mit seinem Fahrrad spazieren und verschwindet, vielleicht als Folge einer Entführung, vom Gehsteig vor dem Maxton. Mehr weiß Dale vorerst nicht, und er vertraut darauf, dass Jack Sawyer viele der Lücken in dieser Erzählung ausfüllen können wird.
Jack Sawyer, den die beiden anderen Männer erwartungsvoll anstarren, lässt sich Zeit, um die drei Gedanken zu ordnen, die er jetzt zu denken glaubt. Der erste ist weniger ein Gedanke, als eine Reaktion, in der ein Gedanke verborgen ist: Seit dem Augenblick, in dem Fred Marshall seine Hand umklammert und »Mann, o Mann« gesagt hat, mag Jack ihn, was eine unerwartete
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