Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
der rechten Seite die überwachsene Zufahrtsstraße, die nicht zum Goldschatz eines Drachen oder geheimen Zwergenbergwerken, sondern zu jenem besonders unangenehmen schwarzen Haus führt. Etwas weiter dahinter können wir die futuristische Kuppel von Goltz’s sehen (na ja … sie wirkte futuristisch, zumindest in den Siebzigerjahren). Unsere Orientierungspunkte sind alle vorhanden, auch der mit Geröll übersäte, verunkrautete unbefestigte Fahrweg, der von der Hauptstraße nach links abzweigt. Es ist der Weg, der zu Ed Gilbertsons ehemaligem Palast sündiger Freuden führt.
Wir wollen uns auf der Telefonleitung niederlassen, die etwa parallel zu diesem Weg verläuft. Aufregender Klatsch kitzelt unsere Vogelfüße: Paula Hrabowskis Freundin Myrtle Harrington gibt die Nachricht von der Leiche bei Ed’s (beziehungsweise den Leichen) an Richie Bumstead weiter, der sie dann seinerseits an Beezer St. Pierre, den trauernden Vater und Spiritus Rector der Thunder Five, weitergeben wird. Dieser Sprechverkehr durch den Draht sollte uns eigentlich nicht gefallen, aber er tut es trotzdem. Klatsch ist zweifellos hässliches Zeug, aber er regt den menschlichen Geist nicht wenig an.
Aus Westen kommt jetzt der Streifenwagen mit Tom Lund am Steuer und Dale Gilbertson auf dem Beifahrersitz an. Und aus Osten kommt Jacks burgunderroter Dodge Ram herangerollt. Sie erreichen die Abzweigung zu Ed’s im selben Augenblick. Jack bedeutet Dale, er solle vorausfahren, und fährt dann hinter ihm her. Wir erheben uns in die Luft, schweben über ihnen und fliegen dann voraus. Wir lassen uns auf der rostigen Esso-Zapfsäule nieder, um den weiteren Gang der Dinge zu beobachten.
Jack fährt langsam den Weg entlang, der zu dem halb zerfallenen Gebäude führt, das zwischen hohem Unkraut und Goldrute steht. Er hält Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen für Verkehr, sieht aber nur die frischen Reifenspuren, die der Streifenwagen von Dale und Tom hinterlassen hat.
»Wir sind hier allein«, teilt er Henry mit.
»Ja, fragt sich nur für wie lange.«
Nicht sehr lange, hätte Jacks Antwort gelautet, hätte er sich die Mühe gemacht, eine zu geben. Stattdessen hält er neben Dale und steigt aus. Henry lässt das Fenster auf seiner Seite herunter, bleibt aber wie befohlen im Auto sitzen.
Das Ed’s war einst ein schlichter Holzbau von der Länge eines Güterwagens der Burlington Northern und auch mit dem flachen Dach eines Güterwagens. Am Südende konnte man an einem der drei Fenster Waffeleis kaufen. Am Nordende konnte man einen üblen Hot Dog oder eine noch üblere Portion Fisch mit Fritten zum Mitnehmen bekommen. Im Mittelteil befand sich eine kleine Imbissbude mit der Theke und rot gepolsterten Hockern. Das Südende ist inzwischen ganz zusammengebrochen, vermutlich unter der Schneelast des Winters. Die Fensterscheiben sind längst alle eingeworfen worden. An den Wänden stehen einige Graffiti – Soundso lutscht Schwänze, wir haben Patty Jarvis gefickt biß sie geflennt hat, TROY LIBT MARYANN -, aber nicht so viele, wie Jack erwartet hätte. Bei allen Hockern bis auf einen hat man die Sitzpolster aufgeschlitzt. Im Gras zirpen Grillen um die Wette. Sie sind laut, aber längst nicht so laut wie die Fliegen in dem verfallenden Holzbau. Dort drinnen scheint es massenhaft Fliegen zu geben, eine regelrechte Versammlung. Und …
»Riechst du auch was?«, sagt Dale.
Jack nickt. Natürlich riecht er etwas. Diesen Gestank hat er heute schon einmal in der Nase gehabt, aber der hier ist bei weitem schlimmer. Weil hier mehr von Irma vorhanden ist, was Verwesungsgestank verbreiten kann. Weit mehr, als in einen Schuhkarton passen würde.
Tom Lund hat ein Taschentuch hervorgezogen und wischt sich damit sein breites, kummervolles Gesicht ab. Der Tag ist
heiß, aber nicht heiß genug, um den Schweiß zu erklären, der ihm übers Gesicht läuft. Sein Teint ist käsig.
»Officer Lund«, sagt Jack.
»Hä?« Tom fährt zusammen und sieht sich mit ziemlich wildem Blick nach Jack um.
»Sie werden sich vielleicht übergeben müssen. Lässt sich das nicht vermeiden, tun Sie’s bitte dort drüben.« Jack deutet auf einen fast zugewachsenen Weg, der noch älter und weniger klar erkennbar ist als der Fahrweg von der Straße her. Der Weg scheint sich in Richtung Goltz’s davonzuschlängeln.
»Ich schaff’s schon«, sagt Tom.
»Das weiß ich. Aber falls Sie sich trotzdem übergeben müssen, tun Sie’s bitte nicht auf etwas, was zum Beweismaterial gehören
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