Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
können. Aber so etwas habe ich wirklich noch nie gehört.«
Seit sie miteinander sprechen, betrachtet Dr. Spiegleman Jack forschend, als beurteilte er ihn nach Kriterien, die dieser nicht einmal erahnen kann. Jacks Gesichtsausdruck bleibt neutral und unpersönlich wie der eines Verkehrspolizisten. »Mr. Marshall hat mir mitgeteilt, er werde Sie anrufen. Zwischen Mrs. Marshall und Ihnen scheint sich ja ein recht ungewöhnliches Vertrauensverhältnis herausgebildet zu haben. Sie achtet wohl Ihre beruflichen Fähigkeiten, was nicht anders zu erwarten war, aber sie vertraut Ihnen offenbar auch. Mr. Marshall hat mich also darum gebeten, Ihnen ein Gespräch mit seiner Frau zu gestatten, und selbst seine Frau sagt mir, dass sie Sie unbedingt sprechen muss.«
»Dann dürfte es für Sie ja kein Problem sein, mich eine halbe Stunde lang unter vier Augen mit ihr reden zu lassen.«
Dr. Spieglemans knappes Lächeln verschwindet sofort wieder. »Meine Patientin und ihr Mann haben lediglich ihr Vertrauen zu Ihnen demonstriert, Lieutenant Sawyer, aber darum geht’s nicht. Hier geht’s darum, ob ich mich auf Sie verlassen kann oder nicht.«
»In welcher Beziehung meinen Sie das?«
»In jeder möglichen Hinsicht. Vor allem, dass Sie im besten Interesse meiner Patientin handeln. Dass Sie sie nicht unnötig aufregen, ihr aber auch keine falschen Hoffnungen machen. Meine Patientin hegt eine ganze Anzahl von Illusionen, die um die Existenz einer anderen Welt kreisen, die irgendwie an unsere grenzen soll. Sie glaubt, dass ihr Sohn in dieser anderen Welt gefangen gehalten wird. Ich muss Ihnen sagen, Lieutenant, dass meine Patientin und ihr Mann glauben, dass Sie mit dieser Fantasiewelt vertraut sind – das heißt, meine Patientin glaubt fest daran, ihr Mann schließt sich ihrer Auffassung aber nur deshalb an, weil dieser Glaube seine Frau tröstet.«
»Ich verstehe.« Es gibt nur eines, was Jack dem Arzt jetzt
erzählen kann, und er sagt es. »Und Sie sollten wissen, dass ich alle meine Gespräche mit den Marshalls in meiner inoffiziellen Eigenschaft als Berater des French Landing Police Departments und seines Chiefs Dale Gilberton geführt habe.«
»In Ihrer inoffiziellen Eigenschaft?«
»Chief Gilbertson hat mich gebeten, ihn bei der Durchführung seiner Ermittlungen im Fall Fisherman zu beraten, und als vor zwei Tagen auch Tyler Marshall verschwunden ist, habe ich mich bereit erklärt, ihm nach besten Kräften zu helfen. Ich besitze keinerlei offiziellen Status. Ich lasse den Chief und seine Leute nur von meiner Erfahrung profitieren.«
»Eines möchte ich noch genau wissen, Lieutenant. Haben Sie die Marshalls in Bezug auf Ihre Vertrautheit mit Mrs. Marshalls Fantasiewelt irregeführt?«
»Ich will Ihre Frage folgendermaßen beantworten. Durch die Kassette wissen wir, dass Tyler Marshall von diesem Fisherman offenbar tatsächlich gefangen gehalten wird. Wir könnten also sagen, er befindet sich nicht länger in dieser Welt, sondern in der des Fishermans.«
Dr. Spiegleman zieht die Augenbrauen hoch.
»Glauben Sie etwa, dass dieses Ungeheuer dasselbe Universum bewohnt wie wir?«, fragt Jack. »Ich glaub’s nicht, und Sie tun’s in Wirklichkeit auch nicht. Der Fisherman lebt in einer eigenen Welt, die nach fantastisch detaillierten Regeln funktioniert, die er sich im Lauf der Jahre zurechtgelegt oder ausgedacht hat. Bei allem Respekt, meine Arbeit hat mich sehr viel mehr Erfahrung mit Strukturen dieser Art sammeln lassen, als die Marshalls, die Polizei oder – außer Sie haben sehr viel mit psychopathischen Kriminellen gearbeitet – sogar Sie besitzen. Tut mir Leid, wenn das arrogant klingt, aber so ist’s nicht gemeint.«
»Sie sprechen von Profiling? Irgendwas in dieser Art?«
»Ich habe vor vielen Jahren an einem vom FBI durchgeführten speziellen Lehrgang teilgenommen und dort viel über Profiling gelernt, aber das, wovon ich jetzt rede, geht weit über Profiling hinaus.« Und das ist die Untertreibung des Jahres, sagt Jack sich. Jetzt sind Sie am Ball, Doktor.
Spiegleman nickt bedächtig. Der entfernte Lichtschein lässt
seine Brillengläser aufblitzen. »Ich verstehe Sie, glaube ich, ja.« Er überlegt sorgfältig. Er seufzt, verschränkt die Arme vor der Brust und denkt noch etwas länger nach. Dann hebt er den Kopf und sieht wieder zu Jack auf. »Also gut. Ich lasse Sie mit ihr reden. Allein. In meinem Büro. Eine halbe Stunde. Ich möchte keine fortschrittlichen polizeilichen Ermittlungen
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