Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
aber Jack schüttelt ihn mühelos durch, sodass der Kopf des großen Mannes von einer Seite zur anderen fliegt. Docs langes Haar flattert und weht.
»Das sind alles nur Illusionen«, sagt Jack. »Bewegte Bilder, die unerwünschte Gäste wie uns fernhalten sollen. Ich weiß nicht, was du gesehen hast, Doc, aber es ist nicht wirklich da.«
Doc blickt Jack vorsichtig über die Schulter. Sekundenlang sieht er einen verblassenden rosa Wirbel – wie das Auftauchen des Höllenhunds, nur umgekehrt -, dann ist die Erscheinung verschwunden. Er sieht zu Jack auf. Tränen rollen ihm über das sonnenverbranntes Gesicht.
»Ich wollte sie nicht umbringen«, sagt er. »Ich habe sie geliebt . Aber ich war an diesem Tag müde. Schrecklich müde. Weißt du, wie’s ist, wenn man übermüdet ist, Hollywood?«
»Ja«, sagt Jack. »Falls wir hier lebend rauskommen, habe ich vor, erst mal eine Woche zu schlafen. Aber im Augenblick …« Er sieht von Doc zu Beezer, von Beezer zu Dale hinüber. »Wir werden weiteres Zeug sehen. Das Haus wird eure schlimmsten Erinnerungen gegen euch verwenden: Dinge, die
schief gegangen sind, Menschen, die ihr verletzt habt. Aber im Großen und Ganzen bin ich zuversichtlich. Ich glaube, dass dieses Haus mit Burnys Tod viel von seinem Gift verloren hat. Wir müssen jetzt nur noch einen Weg hindurch auf die andere Seite finden.«
»Jack«, sagt Dale. Er steht auf der Schwelle, genau dort, wo Daisy ihren alten Arzt begrüßt hat. Seine Augen scheinen unnatürlich geweitet zu sein.
»Was?«
»Einen Weg hindurch finden … das ist vermutlich leichter gesagt als getan.«
Sie versammeln sich um Jack. Hinter der Haustür liegt eine gigantische runde Eingangshalle, deren riesige Abmessungen ihn flüchtig an den Petersdom denken lassen. Der Boden ist mit einem halben Hektar eines giftgrünen Teppichs bedeckt, in den Bilder von Folter und Gotteslästerung eingewebt sind. In die Wände dieses Foyers sind unzählige Türen eingelassen. Außerdem zählt Jack vier einander überkreuzende Treppenaufgänge. Er blinzelt, und plötzlich sind es sechs. Blinzelt nochmals und sieht ein Dutzend, die ihm verwirrend wie eine Escher-Zeichnung erscheinen.
Er kann das tiefe idiotische Dröhnen hören, das die Stimme von Black House ist. Und er kann noch etwas anderes hören: Gelächter.
Tretet ein, fordert das schwarze Haus sie auf. Tretet ein, und irrt auf ewig durch diese Räume.
Jack blinzelt und sieht nun tausend Treppenaufgänge, von denen manche sich zu bewegen, zu pulsieren scheinen. Offen stehende Türen führen in Gemäldegalerien, in Skulpturengalerien, zu wirbelnden Strudeln, ins Leere.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Dale entmutigt. »Was zum Teufel machen wir jetzt?«
Ty hat den Freund des Alten nie gesehen, aber während er gefesselt an der Wand hängt, stellt er fest, dass er ihn sich sehr leicht vorstellen kann. In dieser Welt ist Mr. Munshun real … wenn auch kein menschliches Wesen. Ty sieht eine schlurfende Gestalt in einem schwarzen Anzug und mit rotem Plastron
geschäftig die Station House Road entlanghasten. Dieses Wesen hat ein großflächiges weißes Gesicht, das von einem roten Mund und einem einzelnen verschwommenen Auge beherrscht wird. In Tys Vorstellung erscheint der Abgesandte und Bevollmächtigte des Abbalah wie Humpty-Dumpty, allerdings ins Bösartige verzerrt. Er trägt eine Weste mit Knöchelchen statt Knöpfen.
Muss hier raus. Muss an den Beutel rankommen … aber wie?
Er sieht wieder zu Burny hinüber. Betrachtet das scheußliche Geschlängel von dessen herausgerissenen Eingeweiden. Und plötzlich weiß er, was er zu tun hat. Er streckt wieder den Fuß aus, diesmal jedoch nicht nach dem Lederbeutel. Stattdessen schiebt er die Kappe seines Turnschuhs unter eine der mit Erde beschmutzten Darmschlingen Burnys. Er hebt sie hoch, dreht sich zur Seite und macht eine rasche Fußbewegung, als wollte er einen Ball treten. Die Darmschlinge gleitet von der Zehenkappe.
Und fällt über den Lederbeutel.
So weit, so gut. Jetzt muss er den Beutel nur noch heranziehen, bis er ihn mit dem Fuß erreichen kann.
Ty versucht, nicht an die stämmige, hastende Gestalt mit dem grotesk langen Gesicht zu denken, während er den Fuß nochmals ausstreckt. Er schiebt ihn unter die beschmutzte Darmschlinge und fängt an, sie langsam, unendlich behutsam zu sich herzuziehen.
»Unmöglich«, sagt Beezer rundweg. »Nichts kann so groß sein. Das ist doch klar, oder?«
Jack holt tief Luft, atmet langsam
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