Das schwarze Manifest
demnächst vierundsiebzig wurde, war er immer noch eine ehrfurchtgebietende Erscheinung. Mit seiner einsfünfundachtzig hohen, stets kerzengerade aufgerichteten Gestalt, seinem schlohweißen Haar, seinem wettergegerbten Gesicht und seinem Markenzeichen, einem an beiden Enden gezwirbelten Schnurrbart, stach er in jeder Versammlung hervor.
Zeitlebens war er Panzersoldat gewesen. An jedem Kriegsschauplatz, an jeder Front hatte er zunächst als gemeiner Soldat und zum Schluß als General gekämpft. Bei denjenigen, die unter ihm gedient hatten – und das waren bis zu seiner Pensionierung mehrere Millionen –, war er eine Legende.
Jeder wußte, daß er unter normalen Umständen als Marschall aus der Armee ausgeschieden wäre, hätte er nicht die Angewohnheit gehabt, stets laut seine Meinung zu sagen.
Wie Leonid Saizew, der Hase, an den er sich nie erinnern sollte, obwohl er ihm einmal in einem Lager vor Potsdam auf die Schulter geklopft hatte, stammte auch Nikolajew, Sohn eines Ingenieurs, aus der Nähe von Smolensk. Allerdings war er elf Jahr vor Saizew, im Winter 1925, auf die Welt gekommen.
Er hatte noch in lebhafter Erinnerung, wie sein Vater sich einmal vor einer Kirche bekreuzigte. Auf die Frage seines Sohns, was er da machte, bekam der Mann es plötzlich mit der Angst zu tun und schärfte dem Jungen ein, keiner Menschenseele davon zu erzählen.
Das war in der Zeit gewesen, als ein anderer Jugendlicher zum Volkshelden erklärt wurde, weil er seine Eltern wegen abfälliger Bemerkungen über die Partei bei den Behörden angezeigt hatte. Beide sollten in einem Lager sterben, indes ihr Sohn als Vorbild für die Jugend bejubelt wurde.
Doch der kleine Kolja liebte seinen Vater zu sehr, um sich zu verplappern. Aber erst später erfuhr er, was diese Geste zu bedeuten hatte, und glaubte seinen Lehrern, die das Ganze als Unsinn bezeichneten.
Als am zweiundzwanzigsten Juni 1941 im Westen der Blitzkrieg begann, war er gerade fünfzehn. Innerhalb eines Monats wurde Smolensk von den deutschen Panzern überrollt, und der Junge mußte mit Tausenden anderen fliehen. Seine Eltern schafften es nicht mehr. Er sollte sie nie wieder sehen.
Weil er ein kräftiger Bursche war, trug er seine zehnjährige Schwester Tatjana über hundert Meilen auf den Schultern, bis sie eines Nachts auf einen in Richtung Osten fahrenden Zug aufsprangen. Damals wußten sie es noch nicht, aber es war ein besonderer Zug. Er transportierte die Einzelteile einer Panzerfabrik, die aus der Gefahrenzone herausgebracht und im Ural neu aufgebaut werden sollte.
Die völlig durchfrorenen und ausgehungerten Kinder klammerten sich ans Dach, bis der Zug schließlich in Tscheljabinsk am Fuß des Gebirges eintraf. Dort wurde die Panzerfabrik unter dem Namen Tankograd wiedererrichtet.
An eine Einschulung der Kinder war nicht zu denken. Galina wurde in ein Waisenhaus gesteckt, und Kolja mußte in der Panzerfabrik arbeiten. Er blieb dort fast zwei Jahre.
Bis zum Winter 1942 erlitten die Russen zwischen Charkow und Stalingrad schreckliche Verluste an Menschen und auch an Panzern. Ihre traditionelle Taktik erwies sich zunehmend als selbstmörderisch. Für Schulungen nahm man sich keine Zeit. Man setzte kurzerhand irgendwelche Menschen in die Panzer und hetzte sie vor die Mündungsfeuer der Deutschen. So war es in der Geschichte der russischen Armee ja schon immer gewesen.
In Tankograd wuchs der Bedarf nach neuen Panzern. Alle arbeiteten in Sechzehnstundenschichten und schliefen unter der Drehbank. Das Gerät, das sie bauten, hieß KV1, benannt nach dem Marschall Kliment Woroschilow, einem Versager auf militärischem Gebiet, jedoch einer von Stalins Hofschranzen. Der KV1 war ein schwerer, unbeweglicher Koloß, aber damals der am meisten eingesetzte Panzer.
Im Frühling 1943 verstärkten die Russen ihren Sicherheitszone um Kursk, eine Enklave zweihundertvierzig Kilometer weiter südlich, die weit in das von den Deutschen besetzte Gebiet hineinreichte. Im Juni mußte der inzwischen Siebzehnjährige eine Zugladung KV1 in das Frontgebiet begleiten, um bei der Entladung und Lieferung zu helfen und dann nach Tscheljabinsk zurückzukehren. Bis auf den letzten führte er alle Befehle aus.
Die Panzer standen aufgereiht da, als der Kommandant des Regiments, für das sie bestimmt waren, heranstolzierte. Es handelte sich um einen erstaunlich jungen Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit Vollbart und eingefallenem Gesicht. Er wirkte völlig erschöpft.
»Ich habe keine
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