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Das schwarze Manifest

Das schwarze Manifest

Titel: Das schwarze Manifest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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wurde General Nikolai Nikolajew am zwölften Dezember von seinem einzigen noch lebenden Verwandten eingeladen, um seinen vierundsiebzigsten Geburtstag zu feiern.
    Galina, die kleine Schwester, die er früher einmal auf seinem Rücken durch die brennenden Straßen von Smolensk getragen hatte, war längst erwachsen, eine Lehrerin, die 1956 mit fünfundzwanzig Jahren einen Kollegen namens Andrejew geheiratet hatte. Ihr Sohn Mischa wurde noch im selben Jahr geboren.
    1963 starben sie und ihr Mann bei einem Autounfall, eine dieser dummen Geschichten: Ein besoffener, nach Wodka stinkender Idiot war direkt in sie hineingefahren.
    Oberst Nikolajew war aus seiner Kaserne im Fernen Osten heimgeflogen, um an der Beerdigung teilzunehmen. Doch das war noch nicht alles, es gab da nämlich einen Brief, den seine Schwester zwei Jahre zuvor geschrieben hatte.
    Falls mir und Iwan etwas geschieht, hatte sie geschrieben, dann kümmere dich um den kleinen Mischa, ich flehe dich an. Und nun stand Nikolajew an ihrem Grab neben dem kleinen, ernsten Jungen, der gerade erst sieben geworden war und nicht weinen wollte.
    Da beide Eltern Staatsangestellte gewesen waren – im Kommunismus waren alle Menschen Staatsangestellte –, fiel ihre Wohnung wieder an die Behörden zurück. Der siebenunddreißigjährige Panzeroberst hatte keine Bleibe in Moskau. Wenn er auf Urlaub heimkam, wohnte er im Junggesellenquartier des Offiziersklubs Frunse. Der Kommandant war damit einverstanden, daß der Junge – vorübergehend – beim Oberst bleiben durfte.
    Nach der Beerdigung nahm Nikolajew den Jungen mit in die Kantine und ließ ihm ordentlich auftischen, aber sie hatten beide keinen großen Hunger.
    »Was zum Teufel fang' ich nur mit dir an, Mischa?« fragte er, doch war die Frage eher an ihn selbst gerichtet.
    Später dann steckte er den Jungen in sein schmales Bett, legte sich selbst aufs Sofa und warf ein paar Decken über sich. Durch die Wand konnte er hören, wie der Junge schließlich doch noch zu weinen begann. Um sich abzulenken, stellte er das Radio an und erfuhr, daß Kennedy gerade in Dallas erschossen worden war.
    Es hatte so seine Vorteile, wenn man drei Heldenmedaillen auf der Brust trug; sie verhalfen dem eigenen Wort zumindest zu einem gewissen Nachdruck. Normalerweise kamen die Jungen erst im Alter von zehn Jahren an die renommierte Militärakademie Nachimow, doch in diesem Fall waren die Behörden mit einer Ausnahme einverstanden. Der kleine und verängstigte Siebenjährige wurde also in eine Kadettenuniform gesteckt und in die Nachimow aufgenommen. Dann fuhr sein Onkel zurück in den Fernen Osten, um seine Karriere fortzusetzen.
    Nikolai Nikolajew hatte im Lauf der Jahre sein Bestes getan, hatte ihn besucht, so oft er auf Urlaub war, und hatte, kaum war er zum Generalstab befördert worden, eine eigene Wohnung in Moskau besorgt, in der der Heranwachsende seine Ferien verbringen konnte.
    Als Mischa Andrejew mit achtzehn seinen Abschluß an der Akademie machte, war er bereits Leutnant und entschied sich, was niemanden überrascht haben dürfte, für eine Laufbahn in einer Panzereinheit. Fünfundzwanzig Jahre später war er dreiundvierzig, Generalmajor und Kommandeur einer Panzerelitedivision vor Moskau.
    Die beiden Männer betraten das Restaurant kurz nach acht, ihr Tisch war reserviert. Wiktor, der Chefkellner, hatte in einem Panzerbataillon gedient; er eilte ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen.
    »Schön Sie zu sehen, General. Sie werden sich wohl kaum an mich erinnern. 1968 war ich Kanonier in der 131. Maikop in Prag. Ihr Tisch ist dort drüben, mit Blick auf die Galerie.«
    Man drehte sich nach ihnen um, weil man wissen wollte, wem all diese Aufregung galt. Geschäftsleute aus Amerika, der Schweiz und Japan starrten sie neugierig an. Die russischen Gäste murmelten: »Ist das nicht Kolja Nikolajew?«
    Wiktor hatte ihnen auf Kosten des Hauses zwei randvolle Gläser mit eisgekühltem Moskowskaja bereitgestellt. Mischa Andrejew prostete seinem Onkel zu, dem einzigen Vater, an den er sich erinnern konnte.
    »Sa wasche sdorowje.
Auf die nächsten vierundsiebzig!«
    »Blödsinn.
Na sdorowje.«
    Beide Männer kippten den Wodka in einem Zug hinunter, warteten und grunzten behaglich, als der Schnaps seine Wirkung tat.
    Über der Bar in der Bojarski Sal gibt es eine Galerie, von der aus den Gästen russische Volksweisen vorgetragen werden. An diesem Abend standen dort oben eine statuenhafte Blondine in der königlichen Garderobe einer

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