Das Schweigen der Laemmer
spitzte.
Gumb liebkoste den Rücken der Form in der natürlichen Spann-weite seiner Arme. Dann ging er hinter sie, um sich die Pudermar-kierungen zu betrachten. Niemand wollte eine Naht spüren. Bei einer Umarmung allerdings legen die Hände sich überlappend über die Mitte des Rückens. Außerdem, so folgerte er, sind wir an die Mittellinie einer Wirbelsäule gewöhnt. Sie ist nicht so unharmonisch wie eine Asymmetrie in unseren Körpern. Schulternähte kamen daher ganz und gar nicht in Frage. Die Lösung war ein Ab-näher oben in der Mitte, die Spitze ein wenig über der Mitte der Schulterblätter. Er konnte dieselbe Naht verwenden, um die in das Futter eingebaute stabile Passe zu befestigen, die Halt lieferte.
Lycraeinsätze unter Schlitzen auf beiden Seiten - er durfte nicht vergessen, das Lycra zu besorgen - und einen Velcroverschluß unter dem Schlitz auf der rechten Seite. Er dachte an diese herrli- chen Charles-James-Kleider, wo die Nähte so versetzt waren, daß sie völlig flach lagen.
Der Abnäher am Rücken würde von seinem Haar verdeckt oder eher dem Haar, das er bald haben würde.
Mr. Gumb streifte den Musselin von der Kleiderpuppe und machte sich an die Arbeit.
Die Nähmaschine war alt und fein gearbeitet, eine verzierte Maschine mit Trittbrett, die es vor vielleicht vierzig Jahren im Handel gegeben hatte. Auf den Arm der Maschine war in Goldblatt-schnörkeln »Ich ermüde nie, ich diene‹ gemalt. Das Trittbrett war nach wie vor funktionsbereit, und Gumb setzte die Maschine damit für jede Reihe von Stichen in Betrieb. Bei feinem Steppen zog er es vor, barfuß zu arbeiten, wiegte das Trittbrett sanft mit seinem fleischigen Fuß und umklammerte den Vorderrand des Bretts mit seinen gelackten Zehen, um Überläufen vorzubeugen. Eine Weile hörte man im warmen Keller nur die Geräusche der Maschine und das Schnarchen des kleinen Hundes und das Zischen der Dampfrohre.
Als er damit fertig war, die Abnäher in das Musselinmodell ein-zusetzen, probierte er es vor den Spiegeln an. Der kleine Hund sah von der Ecke aus mit gehobenem Kopf zu.
Unter den Armlöchern mußte er es ein wenig bequemer machen. Es gab noch einige Probleme mit Aufschlägen und Einlagen.
Ansonsten war es so schön. Es war geschmeidig, durch und durch geschmeidig. Er konnte sich selbst die Leiter einer Wasserrutsche hochklettern sehen, so schnell, wie man wollte.
Mr. Gumb spielte einiger dramatischer Effekte wegen mit den Lichtern und seinen Perücken, und er probierte eine wunderschöne enge Kette aus Muscheln über der Kragenlinie. Es würde phantastisch sein, wenn er ein dekolltiertes Kleid oder einen Sa-tinhausanzug mit passendem Mantel über seinem neuen Brust-korb trug.
Es war so verlockend, jetzt einfach damit weiterzumachen, wirklich geschäftig an die Arbeit zu gehen, doch seine Augen waren müde. Er wollte, daß auch seine Hände völlig ruhig waren, und er war einfach noch nicht für den Lärm bereit. Geduldig zog er die Stiche auf und breitete die Stücke aus. Ein perfektes Muster, nach dem man schneiden konnte. »Morgen, Precious«, erklärte er dem kleinen Hund, als er die Rinderhirne zum Auftauen herausnahm. »Wir machen es als erstes mooooooorrrgen. Mommy wird so schön sein!«
47. Kapitel
Starling schlief fest fünf Stunden lang und wachte tief in der Nacht auf, von Angst vor dem Traum geweckt. Sie biß in die Ecke des Bettlakens, drückte sich die Handflächen auf die Ohren und wartete darauf, herauszufinden, ob sie wahrhaftig wach und weit weg davon war. Stille und keine schreienden Lämmer. Als sie wußte, daß sie wach war, klopfte ihr Herz langsamer, doch ihre Füße wollten unter der Bettdecke nicht still bleiben. Binnen eines Augenblicks, das wußte sie, würden sich ihre Gedanken über-schlagen.
Es war eine Erleichterung, als sie statt Furcht eine Woge heißen Zorns durchlief.
»Bekloppt«, sagte sie und streckte einen Fuß an die Luft.
In dem ganzen langen Tag, als sie von Chilton unterbrochen, von Senatorin Martin beleidigt, von Krendler fallengelassen und scharf getadelt, von Dr. Lecter verhöhnt und von seiner blutigen Flucht angewidert und Jack Crawford von dem Fall zurückgezogen worden war, in diesem ganzen langen Tag gab es eine Sache, die am meisten weh tat: eine Diebin genannt zu werden.
Senatorin Martin war eine Mutter unter extremem Druck, und sie hatte die Nase voll von Polizisten, die die Dinge ihrer Tochter betatschten. Sie hatte es nicht so gemeint.
Dennoch steckte die
Weitere Kostenlose Bücher