Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Törtchen beladene Teetablett, das Osborn hereinbrachte. »Natürlich verloren sie ihr Zuhause, als Mr Hawthorn starb und der Besitz an einen Cousin vererbt wurde. Aber eine der Schwestern machte eine ausgezeichnete Partie. Sie heiratete einen wohlhabenden Gentleman, einen Mr Crenshaw aus Faringdon, und soweit ich weiß, lebt Mrs Hawthorn bei ihrer Tochter auf Crenshaws Anwesen.«
Mrs Bradley gab Osborn ein Zeichen, den Tisch vor ihr für den Tee zu decken, als wäre sie hier die Herrin, dann richtete sie ihren kühlen Blick wieder auf Olivia. »Während die andere Schwester, Ihre Mutter, einen … Buchhalter heiratete?«
»Miss Keene«, warf Lord Brightwell ein, »wenn Sie Ihr Gespräch mit diesen reizenden christlichen Damen beendet haben, hätten Sie dann etwas Zeit für mich in der Bibliothek? Ich bin auf einen weiteren Fehler in den Abrechnungen des Anwesens gestoßen und brauche Ihr geübtes Auge und Ihre mathematischen Fertigkeiten.«
Olivia vermutete, dass er sich die Geschichte ausgedacht hatte, um die Damen zu beeindrucken, aber sie nahm keinen Anstoß daran. Ganz im Gegenteil, am liebsten hätte sie ihm die Hand geküsst.
Nachdem sie kurz in Lord Brightwells Bibliothek gewesen war und einen Blick auf die Abrechnungen geworfen hatte – in denen sie innerhalb von Minuten einen kleinen Fehler fand –, entschuldigte sich Olivia, weil sie zu Audrey und Andrew zurückkehren wollte. Im Gang traf sie auf Miss Ripley, die allein auf einer Bank neben der Tür zum Empfangszimmer saß. Von dort waren angeregte Gespräche und das zarte Klingen der Porzellantassen zu hören, während die Damen zusammen Tee tranken. Miss Ripley gab eine bedauernswerte Figur ab, und Olivia, die schon einen kleinen Eindruck vom Los einer Gouvernante erhalten hatte, hatte Mitleid mit ihr.
»Miss Ripley, hätten Sie Lust, mich ins Schulzimmer zu begleiten?«
Das abgezehrte Gesicht der Frau erhellte sich und wurde dann wieder düster. »Danke, Miss, aber ich bin Ihnen dort nur im Weg.«
»Aber ganz und gar nicht. Hätte ich Sie sonst gefragt?«
Aufgrund von Olivias Antwort, deren Ton etwas schärfer ausgefallen war als beabsichtigt, fühlte sich die Frau gezwungen, sich zu erheben und Olivia die vielen Stufen zum Schulzimmer hinauf zu folgen. Olivia öffnete die Tür mit Schwung, insgeheim stolz auf die Einrichtung des Zimmers. Während Olivia ein paar zusätzliche Kohlen in den Ofen legte, begutachtete Miss Ripley mit offensichtlicher Anerkennung die säuberliche Anordnung von Bank und Tisch, Landkarten und Globus, Staffeleien und aufgehängten Landschaften, Büchern und Tafeln.
Sie fuhr mit ihren knochigen Fingern über die Bücher auf Olivias Schreibtisch und fragte: »Was für Lehrbücher verwenden Sie?«
»Überwiegend Mangnall's Questions , und dazu –«
»Ausgezeichnet. Es gibt nichts Besseres. Und wie sieht es mit der Disziplin aus, Miss Keene? Haben Sie Ihren Schülern genügend Disziplin beigebracht?«
»Ich weiß es nicht. Ich muss gestehen, dass es mir manchmal schwer fällt, ihnen die nötige Aufmerksamkeit abzuverlangen.«
»Sagen Sie das nicht! Sie müssen mit eiserner Faust – oder Rute – herrschen, Miss Keene. Ein paar tüchtige Ohrfeigen schaden auch nie.«
»Ich glaube nicht …« Olivia erkannte, dass es nichts bringen würde, Widerspruch zu äußern, und sagte stattdessen: »Ich bin davon überzeugt, dass Mrs Howe das nicht erlauben würde.«
»Als Mädchen hat Miss Judith ihren Anteil an disziplinarischen Maßnahmen abbekommen, das dürfen Sie mir glauben, und es hat ihr sehr gut getan. Ich werde mit ihr sprechen, bevor ich abreise, und sie ermutigen, strenger mit den Kindern zu sein und Ihnen das auch zu erlauben.«
»D-danke, Miss Ripley. Aber das ist nicht notwendig. Das heißt, ich werde schon zurechtkommen.«
»Ohne Disziplin werden Sie nie zurechtkommen, Miss Keene. Machen Sie nicht den Fehler, sich mit Ihren Schülern anfreunden zu wollen. Sie sind nicht ihre Freundin, Sie sind ihre Gouvernante, und Sie müssen das Sagen haben. Das wird ihnen nicht gefallen. Erwarten Sie nichts in dieser Richtung. Erwarten Sie, dass sie Ihnen weder Wärme noch Wertschätzung entgegenbringen, dann werden Sie nicht enttäuscht.«
Olivia starrte die ältere Frau an und erkannte die brüchige Fassade, hinter der sich Jahre der Ablehnung und der schlechten Behandlung verbargen. Sie sagte in ruhigem Ton: »Es ist eine einsame Art zu leben, nicht wahr?«
»Natürlich ist es das. Aber jede Gouvernante, die etwas
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