Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
auf sich hält, weiß das von vornherein und erwartet nichts anderes.«
»Aber … ohne Freunde, ohne Wärme oder Anerkennung zu leben?«
Miss Ripley schaute Olivia an, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Das ist unser Los.«
Olivia berührte die Frau am Arm und diese zuckte zusammen, als hätte sie sich verbrannt. »Möchten Sie gern Tee mit mir trinken, Miss Ripley?«
Die Augen der Frau glänzten feucht. »Danke.«
Becky brachte ihnen Tee und einen Teller mit Mrs Moores Ingwerkeksen, und die zwei Gouvernanten setzten sich zusammen an den Tisch im Schulzimmer.
»Ich war darauf vorbereitet, Sie zu hassen, Miss Keene«, gab Miss Ripley über den Rand der Teetasse hinweg zu. »Die unerfahrene Frau, die den Posten einnimmt, den ich selbst gern hätte. Ich brauche eine Stellung, wissen Sie. Offenbar will niemand eine Gouvernante in meinem Alter.«
Miss Ripley nippte damenhaft an ihrer Tasse und betrachtete Olivia mit ernsthafter Miene. »Ich war nicht die Einzige, die überrascht war, wie jung Sie sind. Bevor die Damen mich wegschickten, machte Mrs Bradley eine Bemerkung darüber zu Miss Judith. Sie sagte, Sie wären insgesamt viel zu jung und hübsch, um vertrauenswürdig zu sein. Soweit ich verstanden habe, hat sie die Sorge, Sie könnten Lord Brightwell den Kopf verdrehen.«
»Lord Brightwell?« Olivia glaubte, sich verhört zu haben.
»Ja.« Miss Ripley biss ein zierliches Stück von ihrem Keks ab. Hätte sie etwas mehr Schick besessen, wäre sie richtig elegant gewesen. »Miss Judith fragte ihre Mutter, ob sie Lord Bradley meinte, den Sohn von Lord Brightwell, aber Mrs Bradley beharrte auf ihrer Einschätzung. Dann merkte sie, dass ich zuhörte und sagte nichts mehr.«
»Wie seltsam. Lord Brightwell ist alt genug, um mein …« Das Wort blieb Olivia im Hals stecken. »Ich versichere Ihnen, dass nichts dieser Art vor sich geht.«
Miss Ripley zog eine schmale Schulter hoch und lächelte wissend. »Ich würde es Ihnen nicht vorwerfen, wenn es anders wäre. Wir müssen alles tun, was wir können, um unsere Zukunft zu sichern. Das ist meine Meinung.«
Olivia ergriff dankbar die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Und was werden Sie jetzt tun, Miss Ripley? Nach Hause zurückkehren?«
»Ich habe kein Zuhause, Miss Keene. Über zwanzig Jahre lang hab ich in den Häusern anderer Menschen gelebt. Ich habe Räume mit lockigen Jungen in Nachthemden geteilt – Jungen, die inzwischen längst im Krieg gefallen sind oder eigene Kinder haben. Kaum jemand erinnert sich noch an mich, und wenn ja, dann nicht mit Zuneigung. Ich traf einmal eine Gouvernante – eine Miss Hayes, die von ihren Schützlingen so geliebt wurde, dass sie bei ihnen einzog, als sie erwachsen waren, und als Gouvernante für deren Kinder diente. Und dann, als sie zu alt zum Arbeiten war, lebte sie als geliebte Freundin bei der Familie. Ich habe nur eine solche Geschichte gehört. Viel häufiger sind Geschichten von Gouvernanten, die zu alt zum Arbeiten sind oder zumindest zu alt, um einen schönen Anblick zu bieten, und die deshalb keine Anstellung mehr bekommen, niedrige Arbeiten übernehmen, in winzigen gemieteten Zimmern leben und dann auf der Straße, wo sie langsam verhungern.« Sie nahm einen weiteren Bissen von ihrem Keks. »Niemand wird aus eigener Wahl Gouvernante. Es ist eine Rolle, die man aus Notwendigkeit übernimmt. Um zu überleben. Das einzige echte Mittel für eine Frau aus vornehmem Stand, dafür zu sorgen, dass sie ein Dach über dem Kopf und Nahrung und Kleidung hat.«
Miss Ripley musterte Olivia von Kopf bis Fuß. »Ich weiß, welche Umstände mich vor vielen Jahren dazu zwangen, diesen Weg einzuschlagen, aber ich frage mich, was Ihre Gründe sind. Ich vermute, Ihr Vater konnte oder wollte Sie nicht unterstützen. Aber Sie sind zu hübsch, um nicht einige Heiratsanträge zu bekommen, und Sie hätten stattdessen an einer Mädchenschule unterrichten können. Darf ich fragen, was Sie dazu bewegt hat?«
Olivia starrte die Frau an, verblüfft über ihre lange und unverblümte Rede. Wann war wohl das letzte Mal gewesen, dass Miss Ripley einen anderen Erwachsenen gehabt hatte, mit dem sie als Gleichgestellte sprechen konnte?
»Ich war Assistentin in einer Mädchenschule«, bestätigte Olivia, »aber bestimmte Umstände, wie Sie es von sich auch sagen, brachten mich hierher.« Ihr Vater hatte sie finanziell unterstützt. Olivia konnte nichts anderes behaupten. Aber sie fühlte sich auch nicht verpflichtet, ihn zu verteidigen.
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