Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
die Hilfe von Mrs Hinkley in Anspruch genommen, anstatt wieder eine Nachricht zu schreiben? Hatte sie vermutet, er würde ihr die Bitte abschlagen?
Er dachte an seine harten Worte vom Vortag zurück und bereute sie erneut. Aber seine Entscheidung, sie in Brightwell Court zu behalten und zum Schweigen zu verpflichten, tat ihm nicht leid. Schließlich hielt sie seine Zukunft in den Händen. Sein Erbe, seine Hochzeitsaussichten, die Träume und Pläne, die sein Vater für ihn hatte. Sein gesamtes Zuhause.
Edward blickte direkt in Miss Keenes Augen. Konnte sie seine misstrauischen Gedanken lesen? Denn tatsächlich hatte er den Verdacht, sie würde eine solche Gelegenheit nutzen, um zu fliehen.
»Wenn sie sich aus dem Blickfeld des Hauses entfernen will, muss sie eine weitere Person bei sich haben. Miss Peale oder eins der Hausmädchen.«
»Miss Peale bleibt dieser Tage immer im Haus, Mylord. Sie hat nicht mehr die Kräfte von früher, als Sie ein Junge waren.«
Dies überraschte Edward. Miss Peale würde für ihn immer der Inbegriff des Kindermädchens bleiben. Doch er war jetzt vierundzwanzig und seine alte Kinderfrau musste auf die siebzig zugehen. »Natürlich, daran habe ich nicht gedacht. Ein Dienstmädchen also.«
»Ist das wirklich nötig, Mylord?«
Nicht daran gewöhnt, dass seine Befehle angezweifelt wurden, fixierte er die Haushälterin ärgerlich. Seinen Vater hätte sie nie auf diese Weise hinterfragt. »Oh ja, das ist es.«
Als Mrs Hinkley daraufhin fragend schaute, begegnete Edward noch einmal Miss Keenes Blick und erklärte ungerührt: »Bedenken Sie, dass sie neu hier ist und sich unabsichtlich verlaufen könnte.«
Ausgerüstet mit Umhängen und Handschuhen folgten Olivia und Doris den Kindern in einigem Abstand, als sie auf dem Pfad durch den Wald stürmten.
Die Herbstluft war frisch, der Wald ein buntes Gemälde aus leuchtend braun und orange gefärbten Buchen, orange-roten Ebereschen und den schrumpeligen Beeren des Weißdorns. Blätter fielen ab und segelten zu Boden, und immer deutlicher traten die zinngrauen Äste hervor. Ein Fasan jagte über ihren Pfad und vom Fluss her erklang der trillernde Ruf einer Wasseramsel.
Während sie gingen, plauderte Dory fröhlich vor sich hin und ließ sich nicht von Olivias mangelnder Anteilnahme stören.
Olivia dachte immer noch über Lord Bradleys Weigerung nach, sie ohne Begleitung außer Sichtweite des Herrenhauses zu lassen. Er konnte nichts von ihrer Einsicht ahnen, dass das Anwesen ihr einen angenehmen Unterschlupf bot – bis ihre Mutter kam und sie abholte. Sie fragte sich, ob die Schulleiterin in St. Aldwyns ihren Brief schon erhalten hatte.
Ein schmaler Pfad führte vom Hauptweg zu einer Lichtung, auf der Olivia zu ihrer Überraschung ein behagliches Steinhaus mit Schieferdach entdeckte. Ein Stapel gehacktes Feuerholz, scharrende Hühner, Schweine in einem Pferch und eine dünne Rauchfahne aus dem Kamin verrieten, dass das Haus bewohnt war, doch abblätternde Farbe, verdreckte Fenster und ein vergessener Strumpf, der steif an einer Leine flatterte, deuteten auf Vernachlässigung hin. Hatten sie das Brightwell-Anwesen verlassen?
Olivia blieb stehen und legte eine Hand auf Dorys Arm. Mit der anderen Hand deutete sie auf das Haus und sah das Hausmädchen fragend an.
»Oh, das ist die Hütte des Wildhüters«, erklärte Dory.
Olivia zeigte auf eine Schaukel, die an ausgefransten Seilen reglos an einem Baum hing.
»Er hat keine Kinder, falls Sie das meinen. Er lebt allein hier draußen und bleibt gern für sich. Das ist der beste Platz für ihn, wenn Sie mich fragen.«
Erwartungsvoll hob Olivia die Brauen.
Dory fuhr fort: »Nach allem, was ich über ihn gehört habe, ist er ein grober alter Fiesling. Ich habe aber selbst noch nie mit dem Miesepeter gesprochen. Er sieht so verkniffen aus, als hätte er sich sein Leben lang von Tewksbury-Senf ernährt.« Sie zuckte die Achseln. »Muss aber seine Arbeit gut machen. Die Köchin hat immer jede Menge Wild. Obwohl mir persönlich Hasen und Schnepfen etwas über werden.«
Sie gingen weiter und beschleunigten ihre Schritte, um Audrey und Andrew einzuholen.
»Bleibt auf dem Weg, ihr Klößchen!«, rief Dory ihnen zu. An Olivia gewandt, erklärte sie: »Man weiß ja nie, wo der Mann seine Fallen ausgelegt hat. Ich jedenfalls will nicht in einer von ihnen feststecken.«
Olivia schüttelte sich. Das wollte sie auch nicht.
Am nächsten Tag war das Wetter ungemütlich und kalt und Olivia
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