Das Schweigen der Schwaene
»Wer ist diese Frau? «
»Eine Freundin.«
»Ich wollte nicht neugierig sein«, flüsterte sie. »Ich war einfach... interessiert. Du warst ungewöhnlich hart.«
»Das letzte Mal war einfach schon zu lange her.« Er strich ihr mit dem Zeigefinger über den Mund. »Und jetzt sei still und schlaf.«
»Du willst nicht über sie reden.«
»Da gibt es nichts zu reden.« Nicht nur beim Gedanken an Nell, sondern auch im Gespräch über sie wurde ihm schwer ums Herz. Es hätte ihm gelingen müssen, jeden Gedanken an sie zu verdrängen, indem er sich im Sex verlor. Er hatte Sex schon immer als Mittel der Entspannung benutzt, wenn er aus dem Gleichgewicht geraten war, und im Augenblick war
Ausgeglichenheit, weiß Gott, ein Fremdwort für ihn.
Es funktionierte nicht. Er wollte nicht hier bei Melissa sein. Er wollte auf der Ranch sein bei Nell, wollte beobachten, wie sie versunken über einer Zeichnung saß oder wie sie die Hand ausstreckte und Sam tätschelte.
Vielleicht gab er es besser endlich zu.
Er wollte mit ihr ins Bett, wollte sie vögeln, bis ihr Hören und Sehen verging.
Aber sie war noch nicht bereit. Vielleicht wäre sie niemals für ihn bereit. Wahrscheinlich wäre das auch besser für sie und ihn.
Er hatte lange daran gearbeitet, sein Leben so zu gestalten, wie es ihm angenehm war, und sie brächte alles aus dem Gleichgewicht. Das hieß, sie hatte bereits alles aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie war keine Frau, die sich in den Hintergrund drängen und von ihm besuchen ließ, wann es ihm gefiel.
Selbst in ihren ruhigsten Momenten merkte er, dass er sie beobachtete und sich über ihre Verschlossenheit sorgte.
Die Lösung war offensichtlich Distanz, aber diese Möglichkeit hatten sie nicht. Sie lebten unter einem Dach, hatten täglich und stündlich miteinander zu tun.
Verdammt.
»Ist Nicholas noch nicht aus der Stadt zurück? « fragte Michaela.
»Nein«, sagte Nell, ohne von ihrem Skizzenblock aufzusehen.
»Es ist schon fast dunkel. Normalerweise kommt er immer eher von ihr zurück.«
Nell unterdrückte den Impuls zu fragen, wer sie war.
»Warum haben Sie ihn gehen lassen? « fragte Michaela jetzt.
»Er tut, was er will.«
»Sie hätten ihn aufhalten können. Er benutzt sie nur. Wenn Sie ihm nächstes Mal geben, was er will, geht er nicht.«
Sie blickte auf. »Was? «
»Sie haben mich durchaus verstanden.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Ich dachte, Sie wollten, dass ich so schnell wie möglich wieder verschwinde.«
»Ich habe es mir anders überlegt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich an Sie gewöhnen könnte.«
»Vielen Dank.«
»Und Sie könnten sich an unser Land gewöhnen. Sie könnten uns helfen, dafür zu sorgen, dass Nicholas hier Wurzeln schlägt.«
»Es freut mich, dass ich Ihrer Meinung nach offenbar von Nutzen sein kann.«
»Jetzt sind Sie böse auf mich. Dabei wünsche ich uns allen nur das Beste.«
»Das, was Ihrer Meinung nach das Beste ist.«
Die Haushälterin lächelte. »Natürlich. Aber ich bin bereit, bestimmte Zugeständnisse zu machen, wenn Sie dann
zufriedener sind. Ich werde mich sogar täglich fünfzehn Minuten ruhig hinsetzen, wenn Ihnen das bei Ihrer Malerei weiterhilft.«
»Ich bin einfach überwältigt von Ihrer Großzügigkeit.«
»Das sollten Sie auch sein.« Michaela ging zur Tür. »Es gefällt mir nämlich nicht, ruhig herumzusitzen, ohne irgendetwas Sinnvolles zu tun.«
»Was eine leichte Untertreibung ist.« Nell legte den Skizzenblock beiseite, als sich die Tür hinter Michaela schloss.
Die Frau war einfach erstaunlich, vollkommen taub für alles, was ihren Zielen im Wege stand.
Aber hatte sie selbst nicht dieselbe Eigenschaft? Entdeckte sie da nicht den Splitter im fremden Auge, ohne den Balken im eigenen zu sehen?
Sie stand auf, trat rastlos ans Fenster und blickte hinaus. Der Himmel verdunkelte sich als Zeichen, dass der Abend kam. Sie hatte die Herausforderung der morgendlichen Trainingsstunde im Fitnessraum vermisst. Sie hatte sich an die Routine, an den immer gleichen Rhythmus der Tage gewöhnt.
Hatte sich an Tanek gewöhnt, was vollkommen natürlich war und nichts bedeutete. Schließlich hatte sie sich auch an Michaela und Sam gewöhnt.
Wo war er nur?
Sie erschauderte. Was, wenn er nicht zu einer Frau gefahren war? Michaela sagte, dass er nie so lange bei ihr blieb. Ein Mann, der sich mit Zäunen umgab, war bestimmt in Gefahr, wenn er sie hinter sich ließ.
Mit einem Mal stürzte Sam bellend die Eingangstreppe
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