Das Schweigen der Schwaene
wenigstens eine Chance.«
Nell hob die Hände und tastete vorsichtig an ihren Wangen herum. »Mein Gott.«
»Wenn es Ihnen nicht gefällt, ist das meine Schuld«, sagte Tania entschuldigend. »Joel hat wunderbare Arbeit geleistet.«
»Ja«, stimmte Nell ihr zu. »Eine wunderbare Arbeit. Diese Wangenknochen sind eine Pracht.« Sie merkte, daß sie so unpersönlich sprach, als ginge es um irgendeine Skulptur. Und genauso fühlte sie sich. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war ein Kunstwerk, vollkommen faszinierend, nein... bezaubernd war das bessere Wort. Nur ihre braunen Augen und ihren Mund erkannte sie noch. Nein, das war auch nicht wahr. Durch die unmerkliche Abschrägung wirkten ihre Augen größer und leuchtender. Und ihr Mund sah im
Zusammenspiel mit den hohen Wangen und dem kantigen Kiefer überraschend verletzlich und sinnlich aus.
Sie berührte ihr Augenlid. »Was haben Sie hier gemacht? So dunkel war es vorher nicht.«
»Ein kleiner kosmetischer Eingriff.« Joel verzog das Gesicht.
»Tania fand, ein dauerhafter Lidstrich wäre von Vorteil, falls Sie eine begeisterte Schwimmerin sind. Gott bewahre, daß Sie unter Wasser nicht ebenso perfekt aussehen wie an Land.«
»Es ist nur eine ganz dünne Linie. Sie sieht vollkommen natürlich aus«, warf Tania eilig ein. »Ich dachte, wenn wir Sie schon ummodeln, dann gleich ganz.«
»Ich verstehe.« Die beiden sahen sie erwartungsvoll an. »Ich wirke ziemlich... glamourös. Ich hätte mir niemals träumen lassen...«
»Ich habe Ihnen doch das Computerbild gezeigt«, sagte Joel.
Sie erinnerte sich nur noch vage an das Vorbereitungsgespräch mit ihm. »Ich hätte nicht gedacht - ich glaube, ich habe gar nicht gedacht.«
»Sie werden Zeit brauchen, um sich an Ihr neues Aussehen zu gewöhnen. Falls Sie psychologische Beratung brauchen, werde ich...«
Tania stieß ein verächtliches Schnauben aus, doch er ignorierte sie. »Wie gesagt, eine derart drastische Veränderung kann ein wenig traumatisch sein. Vielleicht brauchen Sie Hilfe, um damit zurechtzukommen.«
»Danke, nein.« Schließlich erführe ihr Leben durch ihr neues Aussehen keine besondere Veränderung. Plötzlich dachte sie, vor Medas hätte sie vielleicht ganz anders darauf reagiert. Das
Gesicht, das Joel ihr gegeben hatte, war der Stoff, aus dem der Traum jedes häßlichen Entleins war. Schönheit führte automatisch zu Selbstvertrauen, und diese Charaktereigenschaft hatte ihr früher immer gefehlt. Nun nicht mehr. Auch Zorn verlieh einem Menschen ungeahnte Kraft. Sie hatte keinen Zweifel, daß sie in der Lage wäre, alles zur Erfüllung ihrer Rachepläne Erforderliche zu tun. »Obwohl ich wahrscheinlich jedesmal, wenn ich an einem Spiegel vorbeikomme, zweimal hingucken muss.«
»Genau wie jeder Mann, selbst wenn er Sie nur auf eine Entfernung von hundert Metern sieht«, stellte Joel trocken fest.
»Wahrscheinlich brauchen Sie bald ständig einen Leibwächter, und zwar aus ganz anderen Gründen, als Nicholas denkt.«
»Einen Leibwächter? «
»Ich nehme an, er hat Phil nicht nur als Krankenpfleger engagiert. Nicholas fühlt sich dafür verantwortlich, daß Ihnen nichts passiert.«
Sie runzelte die Stirn. »Phil wurde von Nicholas Tanek eingestellt? «
Joel nickte. »Phil hat schon früher für ihn gearbeitet. Bei ihm sind Sie in Sicherheit. Auf diesem Gebiet hat Nicholas noch nie einen Fehler gemacht.«
»Und er ist derjenige, der Phil bezahlt? «
»Keine Angst, er bezahlt alles, was mit Ihrer Behandlung zusammenhängt.«
»O nein. Schicken Sie die Rechnungen bitte an mich.«
»Lassen Sie Nicholas bezahlen«, mischte sich Tania ein. »Joel ist ein sehr teurer Chirurg.«
»Ich kann es mir leisten. Meine Mutter hat mir etwas Geld vererbt.« Sie sah Tania an. »Sie kennen Tanek? «
Tania nickte. »Schon seit Jahren«, sagte sie geistesabwesend, während sie Nells Haare betrachtete. »Morgen müssen wir unbedingt runter in den Salon. Das Grau stört den Gesamteindruck.«
»Was für ein Grau?« Nell wandte sich wieder dem Spiegel zu und erstarrte, als sie die grauen Haare an ihrer linken Schläfe sah.
»Hatten Sie die vorher nicht? « fragte Tania ruhig.
»Nein.«
»Das passiert manchmal. Nachdem meine Tante hatte zusehen müssen, wie man ihren Mann vor ihren Augen ermordete, wurde ihr Haar mit einem Mal schlohweiß.« Sie lächelte. »Aber bei Ihnen ist nur ein dünnes Strähnchen zu sehen. Ich denke, eine leichte Tönung sähe in Ihrem braunen Haar herrlich aus. Das
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