Das Schweigen der Schwaene
als sie eine leere Tüte in den Altpapiereimer warf. Sie hätte nicht gedacht, dass Nicholas Phil bitten würde, sie zu beobachten. Weshalb sollte er? Nell war diejenige, die gefährdet war, und Nell war nicht hier. Dies war Amerika. Hier lauerten keine Heckenschützen in irgendwelchen Ruinen darauf, dass es eine Gelegenheit zum Abschlachten Unschuldiger gab.
Aber all die Jahre der Vorsicht hatten ihre Instinkte geschärft.
Amerika schien nicht der sichere Hort zu sein, als der es ihr immer erschienen war. Auch hier gab es Bombenterror und Mord.
Und sie hatte diese Augen gespürt.
Vielleicht sollte sie Phil tatsächlich bitten, sie zu begleiten, wenn sie das Haus verließ.
Ja, sicher, dachte sie angewidert. Nächste Woche fing ihr Studium an. Sollte sie den armen Kerl etwa jeden Tag draußen Däumchen drehend herumsitzen lassen, bis ihr Unterricht beendet war, nur weil ihr Instinkt ihr einredete, jemand hätte es auf sie abgesehen? Vielleicht war dies ja auch nur eine Spätfolge dessen, was ihr in Sarajevo widerfahren war.
Derartige Erinnerungen und Erfahrungen gruben sich einem Menschen unauslöschlich ins Unterbewusstsein ein. Vielleicht war sie ja nur...
Sie schüttelte den Kopf und wandte ihre Gedanken anderen Dingen zu. Sie würde ihre Entscheidung treffen, wenn es soweit war. So hatte sie es immer getan. Wenn es an der Zeit wäre, das Haus zu verlassen, würde sie sehen, ob ihr Phils Begleitung erforderlich schien. Jetzt brauchte sie sich keine Gedanken zu machen. Hier in diesem Haus, in dem sie sich ein gemütliches
Nest geschaffen hatte, war sie in Sicherheit.
Sie bildete sich ein, sie wäre in Sicherheit, dachte Maritz. Die Viados war in Liebers Haus und fühlte sich geschützt und unbedroht.
Er schob sich tiefer in den Sitz seines Wagens und griff nach dem Big Mac, den er auf dem Weg zum Haus gekauft hatte. Er hatte die Situation im Griff, von ihm wurde das Tempo bestimmt. Sie ohne Unterlass zu beobachten war nicht erforderlich. Nell Calder war im Augenblick nicht im Haus.
Aber dass sie dort gewesen war, hatten ihm Liebers Nachbarn erzählt.
Zumindest dachte er, dass sie es war. Nell Calder war nicht die Schönheit gewesen, die von den Leuten beschrieben worden war, aber Lieber war ein brillanter Chirurg, und in Nell Calders Krankenhausakte wurde er als ihr behandelnder Arzt geführt.
Wozu brauchte man einen plastischen Chirurgen, wenn nicht zur Erlangung eines neuen Gesichts?
Er biss in den Big Mac und kaute genüsslich darauf herum.
Er müsste zusehen, dass das Calder-Problem bald gelöst würde, aber er war sich sicher, dass ihm das gelang. Wenn sie hier gewesen war, dann wusste wahrscheinlich entweder der Doktor oder seine Haushälterin, wo sie zu finden war. Und was sie wüssten, würden sie ihm erzählen, das war klar. Er hätte schon eher gehandelt, aber Lieber war ein anderes Kaliber als der Inhaber des Bestattungsinstituts. Es wäre nicht leicht, Lieber und Viados verschwinden zu lassen, ohne dass es deshalb einen Aufruhr gab. Also wartete er lieber noch eine Woche oder so, denn vielleicht tauchte die Calder ja von alleine wieder auf.
Außerdem machte es ihm Spaß, Tania Viados zu beobachten.
Am zweiten Tag hatte er überrascht und erfreut festgestellt, dass sie spürte, dass ihr jemand auf den Fersen war. Er hatte keine Fehler gemacht, aber trotzdem wusste sie, dass man sie
beobachtete. Das erkannte er an ihrer angespannten Haltung, an den eiligen Blicken, die sie über ihre Schulter warf, an der Hölzernheit ihres Schritts.
Es war lange her, dass er zum letzten Mal auf Raubzug gewesen war. Gardeaux hatte immer darauf bestanden, dass es schnell und sauber ging. Rein, raus. Er verstand nichts von der Freude an der Jagd, von der Freude an der Furcht des Opfers, die beinahe ebenso berauschend war wie die Tötung selbst.
Er verschlang den letzten Bissen seines Big Macs und warf das Einwickelpapier in die Tasche auf dem Beifahrersitz. Er würde noch eine halbe Stunde warten, und dann würde er am Haus vorbeifahren, um herauszufinden, wie sich dort am besten eindringen ließ. Sie führe bestimmt nicht so schnell wieder davon.
Das Haus gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Nell prallte hart auf dem Boden auf.
»Stehen Sie auf«, sagte Nicholas. »Schnell. Bleiben Sie nie am Boden. Sie sind hilflos, solange Sie am Boden sind.«
Schnell? Sie bekam kaum noch Luft, und sich zu bewegen erschien ihr wie ein Ding der Unmöglichkeit. Der ganze Fitnessraum drehte sich um sie.
»Stehen Sie
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