Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen der Schwaene

Das Schweigen der Schwaene

Titel: Das Schweigen der Schwaene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Johansen
Vom Netzwerk:
die verschiedenen Partien einzeln auf.
    Sie begann mit dem tief liegenden Augenpaar.
    So war es besser. So bekäme sie es hin. Und vielleicht ergäben die einzelnen Bereiche ja später das ganze Gesicht...
    »Warum sind Sie hier? «
    Nell blickte auf. Dies war das erste Mal seit über einer Stunde, dass Michaela sprach. »Ich bin nur zu Besuch.«
    Michaela schüttelte den Kopf. »Nicholas hat gesagt, Sie blieben den Winter über hier. Das ist kein Besuch.«
    »Ich werde versuchen, Ihnen nicht zur Last zu fallen.«
    »Wenn Nicholas Sie hier haben will, dann ist mir ein bisschen Mehrarbeit egal«
    »Nicholas hat gesagt, Sie und Jean gehörten mehr hierher als er.«
    »Das tun wir auch, aber allmählich wird auch er ein Teil von diesem Land. Er muss nur noch ein bisschen reifen.«
    »Reifen? «
    Michaela zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es fällt ihm schwer, irgendwohin zu gehören, aber genau das ist es, was er will. Wir werden sehen.«
    »Sie wollen, dass er bleibt? «
    Sie nickte. »Er versteht uns und lässt uns leben, wie es uns gefällt. Vielleicht ist der nächste Besitzer dümmer oder weniger gelehrig als er.«
    Nell lächelte. »Und Sie bringen Nicholas die Dinge bei, die man hier wissen muss? «
    »Natürlich. Er ist nicht schwierig. Er ist intelligent und hat eine  ausgeprägte Willenskraft. Er wird mit der Landschaft verschmelzen, er braucht nur noch ein bisschen Zeit.«
    »Ich hätte gedacht, Willensstärke hielte einen Menschen von der Verschmelzung ab.«
    »Dieses Land ist ebenfalls stark. Schwächlinge mag es nicht.«
    Sie musterte Nell. »Es frisst sie, und dann spuckt es sie wieder aus.«
    Nells Zeichenstift verharrte reglos in der Luft. »Und Sie denken, dass ich ein Schwächling bin? «
    »Ich weiß es nicht. Sind Sie's? «
    »Nein.«
    »Dann brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen.«
    »Sie wollen mich hier nicht haben, stimmt's? «
    »Es ist mir egal, ob Sie hier sind oder nicht.« Sie zog das Blech mit den Plätzchen aus dem Ofen. »Solange Sie nicht versuchen, Nicholas von hier fortzulocken. Reden Sie mit ihm. Lächeln Sie ihn an. Schlafen Sie mit ihm.« Sie stellte das Blech auf dem Schlachtblock ab. »Aber wenn Sie gehen, lassen Sie ihn hier.«
    Nell war ehrlich schockiert. »Ich habe nicht die Absicht, mit ihm zu schlafen. Das ist nicht der Grund, weshalb ich hierher gekommen bin.«
    Michaela zuckte mit den Schultern. »Es wird passieren. Er ist ein Mann, und Sie sind näher als die Frauen in der Stadt.« Sie nahm einen Spatel und löste die Kekse vom Blech. »Und Sie sind der Typ Frau, der das Blut eines Mannes in Wallung geraten lässt.«
    »Er sieht nicht die Frau in mir.«
    »Alle Männer sehen als erstes die Frau in der Frau. Das ist ihre erste Reaktion. Erst später sehen sie in uns Menschen, die nicht nur einen Körper haben, sondern auch ein Hirn.«
    »Und er ist der einzige, der in dieser Angelegenheit etwas zu sagen hat? «
    »Sie sehen ihn gerne an. Sie beobachten ihn.«
    Tat sie das? Verdammt, natürlich sah sie ihn an. Er war ein attraktiver Mann. Aus der Menge in dem überfüllten Ballsaal auf Medas hatte er wie ein Leuchtturm herausgeragt. »Das hat nichts zu bedeuten. Es ist nichts zwischen uns.«
    »Wenn Sie es sagen.« Die Haushälterin wandte sich ab. »Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr zum Reden. Es ist fast Essenszeit.
    Ich muss dafür sorgen, dass alles rechtzeitig fertig wird.«
    Nell atmete erleichtert auf. Michaela lag mit ihren Vermutungen vollkommen falsch, aber trotzdem hatte das Gespräch eine beunruhigende Wirkung auf sie gehabt. »Darf ich Ihnen helfen?
    Ich könnte den Tisch decken.«
    »Nein.« Michaela öffnete den Schrank und nahm die Teller heraus. »Gehen Sie lieber in den Stall, und sagen Sie Nicholas dass es gleich Essen gibt.«
    »Gern.« Nell legte ihren Skizzenblock zur Seite und sprang auf.
    Als sie den Stall betrat, striegelte Nicholas gerade einen braunen Hengst. Von der Tür her rief sie: »Das Essen steht auf dem Tisch.«
    »Ich komme sofort.«
    Sie beobachtete, wie er das Tier mit langen, sauberen Strichen bürstete. Egal, was er tat, immer wandte er dieselben kraftvollen und zugleich sparsamen Bewegungen an, dachte sie. Er trug Jeans und ein Sweatshirt und wirkte, als wäre er die Stallarbeit gewöhnt. Hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie angenommen, er käme vom Land. Es war schwer, den Tanek von Medas in Verbindung zu bringen mit dem Mann, den sie vor sich sah.
    Ohne aufzublicken sagte er: »Sie sind sehr ruhig.

Weitere Kostenlose Bücher