Das Schweigen der Toten
auch in diesem Jahr stattfand, war fast ein kleines Wunder. Nach dem Mord an Troy und Arthurs Selbstmord war zu befürchten gewesen, dass sich Perry Hollow von diesem Doppelschock so bald nicht wieder erholte. Aber schon wenige Wochen später hatte sich allgemein die Auffassung durchgesetzt, dass die Stadt jedenfalls die Fassade wahren sollte, auch wenn von einer Rückkehr zur Normalität noch längst nicht die Rede sein konnte.
Aber was Perry Hollow an Normalität eingebüßt hatte, wurde durch die größere Bekanntheit wettgemacht. Die Gäste kamen jetzt in Scharen an den Ort jener schauerlichen Ereignisse. Den Händlern an der Main Street war es recht. Sie verdienten gut an ihnen. Und nach einem schlechten Geschäftsjahr war das Halloween-Fest eine willkommene Möglichkeit, aus morbider Neugier Profit zu schlagen. Nicht zuletzt auch deshalb musste die Party stattfinden.
Wenn sich denn das Wetter besserte. Als Nick eintraf, war er nass bis auf die Haut. Es schien, als habe er angezogen geduscht.
«In den Transformator vorm Supermarkt ist gerade ein Blitz eingeschlagen.»
Die beiden waren mittlerweile so vertraut miteinander, dass Nick auf Begrüßungsfloskeln verzichtete. Er war so oft in Kats Büro, dass er sich manchmal wie einer ihrer Hilfssheriffs vorkam. Wenn er sich nicht in der Station oder im
Sleepy Hollow Inn
aufhielt, war er bei ihr zu Hause, bereitete das Abendessen zu, spielte mit James oder schaute sich mit Kat eine DVD an.
Lou und Carl ließen keine Gelegenheit aus, Kat wegen seiner vielen Besuche aufzuziehen. Lou ging sogar so weit zu fragen, wann sie denn endlich einen Verlobungsring tragen werde. Auch in der Stadt wurde getuschelt. Klatsch und Tratsch betrachtete man in Perry Hollow als eine Art Ausgleichssport, und zurzeit ging das Gerücht um, Chief Campbell und der gutaussehende Lieutenant seien ein Paar.
Kat störte sich nicht daran, denn sie wusste es besser. Sie hatte an Nick Donnelly überhaupt kein romantisches Interesse, und auch er ließ nicht erkennen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er gab zwar vor, immer noch im Fall Meister Tod zu ermitteln, doch hatten seine häufigen Besuche, wie Kat wusste, einen anderen Grund. Er suchte Ersatz für eine Familie. Kat und James waren für ihn wie Schwester und Neffe.
«Wie schlimm ist es?», fragte Kat.
«Ziemlich schlimm», antwortete er. Seine feuchten Sohlen quietschten auf dem Fußboden, als er auf ihren Schreibtisch zuging. «Aber Carl ist schon da, und als ich wegfuhr, kam ein LKW vom E-Werk.»
Kat stand auf und griff nach ihrem Wettermantel, der an der Wand hing. «Ich sehe mir das mal an.»
«Wart mal, ich muss noch kurz mit dir reden», sagte Nick. «Über unsern Freund, den Tierpräparator.»
«Caleb Fisher?»
«Ja. Ich hab ihn im Supermarkt getroffen und einen Blick in seinen Pick-up geworfen.»
«Zufällig?»
Nick verdrehte die Augen. «Wie auch immer, es lagen ein Seil, Handschuhe und ein Taschentuch darin. Außerdem hat er eine Rolle Klebeband gekauft.»
«Und? Nur Klebeband?»
«Er sagt, er will sein Haus winterfest machen. Ich frage mich, wieso er dafür ein Seil und Handschuhe braucht.»
«Du bist zu argwöhnisch», sagte Kat. «Es ist doch nicht verboten, ein Seil im Auto zu haben. Oder Handschuhe.»
«Und was ist mit dem Taschentuch?»
Kat schlüpfte in den Regenmantel und zog den Reißverschluss hoch bis zum Kinn. «Darüber reden wir später.»
Auf dem Weg nach draußen bat sie Lou, ein Auge auf James und Nick zu haben.
«Ich bin bald wieder zurück. Versprochen.»
«Das sagst du doch immer», entgegnete Lou.
Kat ging zur Tür, zog ihre Kapuze über den Kopf, holte einmal tief Luft und stürzte sich hinaus ins Unwetter.
Sie rannte über den Parkplatz, sprang in ihren Crown Vic und hatte schon den Motor gestartet, als plötzlich aus dichten Regenschleiern Henry Goll vor ihr auftauchte. Sein Anblick setzte sie sogleich unter Strom. Wenn sich Henry blicken ließ, gab es immer einen Grund zu Sorge.
Und an diesem Abend war der Grund ein nasses Stück Papier, das er in der Hand hielt. Kat ließ das Seitenfenster herunter.
«Hier ist wieder eine», sagte er und steckte ihr den Zettel zu.
Obwohl das Papier schon völlig aufgeweicht war, konnte Kat den Satz deutlich lesen.
Amber Lefferts aus Perry Hollow starb am 30. Oktober um 18:30 Uhr im Alter von 16 Jahren.
Achtundzwanzig
Das Herz schlug Kat bis zum Hals, als sie Ambers Namen las. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war zehn
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