Das Schweigen der Toten
Laute auf dem Asphalt. Schnell hintereinander. Laufschritte. Aus dem rechten Augenwinkel nahm er einen bewegten Schatten wahr, Nick, der auf ihn zurannte, im Hechtsprung über ihn herfiel und ihn zu Boden riss, so heftig, dass ihm der Atem stockte. Unmittelbar danach spritzte ihm öliges Wasser entgegen, wehten heiße Auspuffgase über ihn hinweg. Der vorbeirasende Wagen hatte ihn nur um wenige Zentimeter verfehlt.
Nick hatte nicht so viel Glück.
Sein rechter Unterschenkel war unter die Räder gekommen. Vor Schmerz aufheulend, versuchte er, seinen Oberkörper aufzurichten. Aus dem zerrissenen Hosenbein sickerte Blut.
Henry sah Kat aus dem Haus stürzen.
«Er hat Amber», brüllte sie und rannte auf ihren Wagen zu.
«Wir müssen jetzt dranbleiben!»
Es war Nick, der geantwortet hatte und mit gequältem Gesichtsausdruck versuchte, auf die Beine zu kommen.
Henry half ihm auf und stützte ihn, als Nick auf dem gesunden Bein zum Wagen hüpfte.
«Wir müssen dem Lieferwagen folgen», stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
«Henry», ächzte Nick unter Schmerzen. «Sie müssen fahren.»
Sekunden später saß Henry hinterm Steuer und schnallte sich an.
«Geben Sie Gas», rief Nick.
Henry war seit fünf Jahren nicht mehr selbst gefahren. Seit dem Unfall. Aber sobald er das Lenkrad unter seinen Händen spürte, erinnerte er sich an alles. Er legte den Gang ein und tat, was Nick befohlen hatte.
Im Rückspiegel sah Henry Kat in ihren Streifenwagen springen und schlingernd über den Rasen im Vorgarten zurücksetzen. Henry fuhr los.
Er hatte nur ein Ziel – er wollte den Lieferwagen einholen. Es wurde dunkel, was die Sichtverhältnisse noch verschlechterte. Der Regen prasselte unvermindert auf die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer waren hoffnungslos überfordert.
«Ich kann den Wagen nicht mehr sehen», sagte Henry.
Nick schien sich mit den Schmerzen abgefunden zu haben. Er zitterte kaum noch, reckte den Hals und spähte in jede Seitenstraße, an der sie vorbeirauschten.
«Wo wurden Troy und George gefunden?», ächzte Nick, der um jedes Wort ringen musste.
«An der Old Mill Road und auf dem See. Wir sind ganz in der Nähe.»
«Dann nichts wie hin.»
Henry nahm ein paar Abkürzungen und hatte bald die Oak Street erreicht.
«Da ist er!» Nick griff nach Henrys Arm. «Nach links!»
Henry riss das Steuer herum. Der Lieferwagen war wieder vor ihnen und raste am Friedhof vorbei. Ohne das Tempo zu verlangsamen, bog er plötzlich nach links ab, holperte über einen Bordstein und verschwand in einer Seitengasse. Henry folgte dichtauf, nahm die Kurve eng und geriet auf dem nassen Gehweg ins Schleudern, schaffte es aber durch geschicktes Gegensteuern, den Wagen wieder in die Spur zu bringen.
Als der Lieferwagen eine scharfe Linkskurve machte, musste Henry abbremsen, um einen entgegenkommenden Jeep vorbeizulassen, hängte sich aber sofort wieder an den Lieferwagen dran, der jetzt rechts abbog, in die Oak Mill Road, wie Henry registrierte. Auf der linken Seite lag der Lake Squall.
Die Straße war breiter als die im Stadtzentrum, sodass man schneller fahren konnte. Henry trat aufs Gaspedal. Er schaute auf den Tacho. Hundertzwanzig Stundenkilometer, und die Nadel kletterte höher.
Er erinnerte sich, ebenso schnell gewesen zu sein, als er das letzte Mal am Steuer gesessen hatte, und obwohl er den Gedanken abzuschütteln versuchte, drängte er sich ihm immer hartnäckiger auf. Der Regen. Die Tachonadel. Der quer zur Fahrbahn stehende Lastwagen. Gias Schreie.
«Henry! Pass doch auf!»
Zuerst glaubte er, seine Erinnerung spiele ihm einen Streich, doch dann bemerkte er, dass es Nick war, der ihn warnte. Im Hier und Jetzt.
Und dann sah er auch, wovor. Am Straßenrand stand ein Hirsch auf seinen langen dünnen Beinen. Vom Lärm der Motoren aufgeschreckt, sprang er auf die Fahrbahn.
Die Bremslichter des Lieferwagens vor ihnen leuchteten auf. Reifen quietschten, das Fahrzeug schlingerte, und Sekundenbruchteile später geschah das Unvermeidliche.
Henry erlebte die Szene vor seinen Augen wie in Zeitlupe. Als er auf die Bremse trat, schien es, als verlangsamte sich auch seine Wahrnehmung. Die Sekunden zogen sich in die Länge. Er sah den Hirsch, vom Kühler des schleudernden Lieferwagens erfasst, im hohen Bogen durch die Luft fliegen. Der Wagen selbst rutschte auf die Böschung zu, sprang scheinbar schwerelos darüber hinweg und landete, auf der Seite liegend, im Schilf am Ufer des Sees. Die Hecktüren
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