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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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waren aufgesprungen und gaben den Blick frei auf zersplitterte Holzbretter – einen Sarg.
    Er war umgekippt, sein Inhalt herausgerollt: eine junge Frau, die auf der Seitenwand lag und sich nicht rührte.
    Henry starrte wieder nach vorn auf die Straße und sah das angefahrene Tier in der Luft auf sich zutrudeln.
    Ab dem Moment, als der Hirsch auf die Windschutzscheibe prallte, schien die Zeit wieder richtig zu gehen. Blitzschnell traf der Kadaver auf, tropfte von der berstenden Scheibe ab und rutschte über die Haube und unter die Vorderachse.
    Die Räder blockierten, das Heck schwang herum. Henry stand auf der Bremse, was aber überhaupt nichts nützte. Der Wagen drehte sich im Kreis, krachte gegen einen Telegraphenmast, prallte wie eine Flipperkugel davon ab und schleuderte quer über die Fahrbahn. Henry hatte die Augen fest zusammengepresst und spürte Glassplitter in sein Gesicht prasseln.
    Als er die Augen wieder öffnete, schienen Himmel und Erde für einen kurzen Moment die Plätze zu tauschen, ein ums andere Mal. Der Wagen überschlug sich.
    Nick hatte eben noch geschrien, hing aber nun, da der Wagen wieder auf den Rädern stand und auf eine Gruppe von Kiefern zuschlitterte, schlaff und stumm in seinem Gurt. Als der Wagen auf einen der Stämme traf, kippte er zurück aufs Dach.
    Henry spürte seinen Gurt reißen und prallte gegen das aus den Fugen geratene Armaturenbrett. Er hatte die Augen geschlossen, war sich aber bewusst, dass Nick, von seinem Gurt gehalten, kopfüber neben ihm hing.
    Der Motor machte Geräusche, die einem Todesröcheln glichen.
    Henry rang nach Luft. Sein Schädel brummte. Die Glieder wurden ihm schwer. Dann verlor er die Besinnung.

Dreißig
    Nick glaubte, sich übergeben zu müssen, so übel war ihm. Die Schmerzen waren in der Brust. Im Kopf. Im Rücken. Am schlimmsten aber tat ihm das rechte Bein weh, es war, als würde es unablässig mit Faustschlägen traktiert.
    Als er die Augen aufschlug, sah er nichts als dunkle, aufgewühlte Wolken.
    Aus denen tauchte plötzlich eine Gestalt auf, ein Mädchen, das auf ihn zutrat und kurz vor ihm stehen blieb. Ihre langen dunklen Haare waren in der Mitte gescheitelt. Sie fielen wie ein geöffneter Vorhang über die Schläfen und gaben den Blick frei auf tränennasse Augen, bleiche Haut und ein trauriges Lächeln.
    Nick hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Jahrzehnte waren vergangen, seit sie ihm das letzte Mal zugewinkt hatte, ehe sie zum Arbeiten in die Drogerie ging. Doch nun stand sie vor ihm, lächelte und weinte gleichzeitig.
    Nick nannte sie bei ihrem Namen. «Sarah.»
    «Nick?», fragte sie. «Kannst du mich verstehen?»
    Der Schmerz machte es ihm fast unmöglich zu nicken.
    «Ja», murmelte er. «Ich höre dich.»
    «Amber Lefferts hat überlebt», sagte Sarah. «Ich dachte, das möchtest du bestimmt wissen.»
    Die Wolken wurden wieder dichter, hüllten die Gestalt ein und ließen sie verschwinden. An ihrer Stelle trat eine andere Person in Erscheinung. Sie war um einiges älter, wirkte aber ebenso traurig und weinte.
    Kat Campbell.
    «Hast du gehört?»
    Die Wolken lichteten sich. Nick fand sich zwischen grauen Wänden und unter einer weißen Zimmerdecke wieder.
    «Wo bin ich?»
    Seine Stimme war gebrochen, der Mund trocken.
    Kat führte ihm ein Glas Wasser an die Lippen und neigte es sacht. Nick genoss die kühle Flüssigkeit, die seine Kehle hinabrann. «Wo bin ich?», fragte er wieder.
    «Im Krankenhaus», antwortete Kat. «Auf der Intensivstation.»
    Nick hob den Kopf ein wenig und blickte an sich herab. Er lag ausgestreckt auf einem Bett. Sein rechtes Bein war eingegipst und wurde von einer Kunststoffschlinge gehalten, die an einem Ständer am Fußende des Bettes befestigt war.
    Sein Bein. Er erinnerte sich, dass es auf der Straße unter die Räder gekommen war. Solche Schmerzen konnte man nicht vergessen. Andere Erinnerungen wurden wach. An den Lieferwagen. Die Verfolgungsjagd. Den Hirsch.
    Und er erinnerte sich an den Lieferwagen, der von der Straße abgekommen war und sich am Ufer des Sees überschlagen hatte, mit Amber Lefferts an Bord, die anscheinend überlebt hatte. Immerhin eine gute Nachricht.
    «Wie geht es ihr?»
    Kat wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Sie lebt. Aber es ist … alles so schrecklich.»
    Schluchzend schlug sie eine Hand vor den Mund und verschwand aus Nicks Gesichtsfeld. Andere traten an ihre Stelle: Cassie Lieberfarb, ebenfalls mit Tränen in den Augen, Rudy Taylor und Tony Vasquez.

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