Das Schweigen der Tukane
sicher nicht, dass ich das sehe.»
«Aber gestern schien ihn das nicht zu stören.»
«Wir mussten um neun Uhr an einer wichtigen Sitzung in Augst sein. Vielleicht musste ich ihn zu der Frau fahren, weil er nicht viel Zeit hatte. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass mein Chef dort mit einer Frau, Sie wissen schon», Gerber senkte errötet den Kopf, «ich dachte, dass dort vielleicht jemand aus der Partei wohnt oder ein Kunde der Kanzlei.»
«Weshalb sind Sie eigentlich ins Haus gegangen?»
«Da ist diese Frau gewesen. Sie ist total verstört aus dem Haus gerannt. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch nichts Schlimmes, aber dann wurde die Zeit langsam knapp. Der Termin in Augst war wichtig. Der Chef hatte das die ganze Zeit betont. Lieber eine halbe Stunde zu früh als eine Minute zu spät. Ich bin also ausgestiegen und, da die Haustür offen stand, bin ich von Wohnung zu Wohnung. Im zweiten Stock links war die Tür nur angelehnt. Ich habe gerufen, keine Antwort. Also klopfte ich an und trat ein. Der Chef lag auf dem Bett … Alles war voller Blut. Ich schrie, ‹Chef, um Himmels willen, Chef, so antworten Sie doch›. Dann bin ich hinuntergerannt und habe Herrn Sonderegger angerufen.»
«Weshalb nicht die Polizei?»
«Ich weiss nicht … er ist mir spontan eingefallen, weil er sich mit dem Chef in Augst treffen wollte. Ich schrie ins Telefon: ‹Der Chef ist tot. Der Chef ist tot!› In meinem Kopf drehte sich alles. Herr Sonderegger sagte, ich solle ja niemanden in die Wohnung lassen, er komme sofort.»
«Und dann?»
«Dann ist er mit einigen Leuten gekommen. Herr Kuster war auch dabei.»
«Der Partner von Grauwiler?»
«Ja, genau. Nach einigen Minuten befahl mir Herr Sonderegger, nach Hause zu fahren. Ich solle mich für die Polizei auf Abruf bereithalten. Was dann weiter passiert ist, weiss ich nicht. Weiss ich nicht.»
Wieder und wieder schüttelte er den Kopf.
«Und die Frau, können Sie sie beschreiben?»
«Jung, blond, etwa so gross wie Sie, Frau Kupfer. Es ging alles so schnell. So schnell … Was ich nicht begreife, warum steht in den Zeitungsberichten, dass der Chef in der Kanzlei gefunden wurde? Das ist doch nicht wahr.»
«Ach wissen Sie, die Journalisten reimen sich so einiges zusammen. Haben Sie ausser der jungen Frau noch jemanden gesehen?»
«Es sind drei oder vier Personen an mir vorbeigegangen. Vermutlich Leute, die zur Arbeit mussten.»
«Lag Herr Grauwiler auf dem Bauch oder auf dem Rücken?»
«Auf dem Bauch, Herr Kommissär. Mit dem Kopf zur Seite. Ich sah seine leeren Augen. Es war entsetzlich.»
«War er angezogen oder nackt?»
Gerber starrte Ferrari entsetzt an.
«Vollkommen bekleidet, Herr Kommissär. Aber das Jacket trug er nicht. Ich glaube, es hing über einem Stuhl.»
Ferrari nickte.
«Es ist da noch etwas, Herr Kommissär, das ich gerne mit Ihnen besprechen möchte. Besprechen möchte.»
«Bitte.»
«Frau Grauwiler fragte mich, ob ich dabei gewesen bin … Sie wissen schon, bei dem Mord. Ich habe ihr die Wahrheit gesagt, doch jetzt kommen mir Zweifel. Vielleicht wäre es besser gewesen, zu lügen, um die Ehre des Chefs zu wahren. Das beschäftigt mich sehr.»
«Es war richtig, Frau Grauwiler nicht zu belügen, Herr Gerber. Sie hätte ohnehin die Wahrheit erfahren und dann wären Sie als Lügner dagestanden.»
«Gott sei Dank! Mir fällt ein Stein vom Herzen. Sie sah mich bei unserem Gespräch ganz komisch an. Ganz komisch.»
Wen wunderts! Der Herr Nationalrat verabschiedet sich frühmorgens mit dem Vorwand von Terminen und taucht wenig später als Leiche im Appartement einer Prostituierten wieder auf.
«Herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Herr Gerber.»
Ferrari klopfte rhythmisch mit seinem Kugelschreiber auf den Tisch. Das bisher Zusammengetragene ergab wenig Sinn. Irgendetwas stimmt hier nicht. Grauwiler kennt Nora Schüpfer. So weit, so gut. Kurz vor dem Mord ändert der Nationalrat plötzlich sein Programm, sucht Unterlagen im Büro, die er nicht findet. Um neun Uhr hat er zusammen mit Sonderegger einen wichtigen Termin in Augst, er ist also unter Zeitdruck. Wieso besucht er unter diesen Umständen Nora Schüpfer? Ging es gar nicht um Sex? Wer weiss, vielleicht war es ja gerade umgekehrt und Nora war Kunde bei Peter Grauwiler? Gut möglich, dass er sie in Rechtsfragen beriet. Ein weiteres Rätsel lag in dieser unsinnigen Aktion von Sonderegger und Kuster. Die beiden Herren hätten doch wissen müssen, dass die Untersuchungen den falschen Tatort
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