Das Schweigen des Glücks
notwendig –, aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr andere Teile ihres Lebens durch die Hände glitten, ohne dass sie es auch nur merkte.
Für ihre Einsamkeit war jedoch nicht nur der Umzug verantwortlich. Rückblickend wusste sie, dass schon in Atlanta eine Veränderung eingetreten war. Die meisten ihrer Freunde waren inzwischen verheiratet, manche hatten eigene Kinder. Andere waren ledig. Doch niemand hatte noch etwas mit ihr gemeinsam. Ihre verheirateten Freunde verbrachten am liebsten ihre Zeit mit anderen Ehepaaren und ihre unverheirateten Freunde führten noch das gleiche Leben, das sie als Studenten geführt hatten. In keine der beiden Welten passte sie hinein. Auch mit den Freunden, die Kinder hatten, war es schwer – sie musste sich anhören, wie wunderbar sich die Kinder entwickelten. Und wenn sie über Kyle sprach? Man hörte ihr zu, aber niemand verstand so recht, wie es für sie war.
Und dann war da natürlich das Thema Mann. Brett ach ja, Brett – war der letzte Mann, mit dem sie eine Beziehung hatte, aber eigentlich war es nicht einmal das gewesen. Eine Bettgeschichte, ja, aber keine Beziehung. Aber was für eine Bettgeschichte, wie? Zwanzig Minuten – und ihr Leben war völlig umgestülpt. Wie sähe ihr Leben jetzt aus, wenn es nicht passiert wäre? Sicher, Kyle wäre nicht auf der Welt… aber… Aber was? Vielleicht hätte sie geheiratet, vielleicht hätte sie ein, zwei Kinder, vielleicht sogar ein Haus mit einem weißen Staketenzaun um den Garten herum. Und sie würde einen Volvo oder einen Minibus fahren und die Ferien in Disney World verbringen. Es klang gut, auf jeden Fall klang es leichter, aber wäre ihr Leben dann besser?
Kyle. Süßer Kyle. Allein bei dem Gedanken an ihn breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Nein, sagte sie sich, besser wäre es nicht. Wenn es ein helles Licht in ihrem Leben gab, dann war er es. Komisch, wie er ihr das Leben schwer machte, und sie liebte ihn trotzdem über alles.
Mit einem Seufzer ging Denise von der Veranda in ihr Schlafzimmer. Beim Ausziehen stand sie vor dem Spiegel im Badezimmer. Die Prellungen auf ihrer Wange waren noch schwach sichtbar, die Platzwunde auf der Stirn war sauber genäht worden, und obwohl eine Narbe bleiben würde, würde sie, da die Wunde fast am Haaransatz war, kaum auffallen.
Abgesehen von diesen Spuren war sie zufrieden mit ihrem Aussehen. Weil sie immer Geldsorgen hatte, gab es in ihrem Haushalt keine Kekse oder Chips. Und da Kyle kein Fleisch mochte, aß sie auch nur selten welches. Sie war jetzt schlanker als vor Kyles Geburt – sie war sogar schlanker als in ihrer Collegezeit. Ohne dass sie sich Mühe gegeben hätte, waren sieben Kilo einfach von ihr abgefallen. Wenn sie Zeit hätte, würde sie ein Buch schreiben mit dem Titel: »Stress und Armut: Die sichere Methode, schlank zu werden!«
Wahrscheinlich ließen sich davon mit Leichtigkeit eine Million Exemplare verkaufen und sie könnte sich zur Ruhe setzen.
Sie kicherte wieder.
Na klar.
Judy hatte im Krankenhaus ganz richtig bemerkt, dass Denise ihrer Mutter ähnelte. Sie hatte die gleichen dunkel gewellten Haare und hellbraunen Augen und war ungefähr so groß wie sie. Wie bei ihrer Mutter hinterließen die Jahre auch bei ihr kaum Spuren – ein paar Krähenfüße in den Augenwinkeln, aber sonst war ihre Haut glatt. Insgesamt sah sie gar nicht so schlecht aus. Eigentlich sogar ziemlich gut, wenn sie es recht bedachte.
Wenigstens etwas Positives.
Damit wollte sie den Tag beschließen; sie zog sich den Schlafanzug an, drehte den Ventilator auf die niedrigste Stufe und kroch ins Bett, bevor sie das Licht ausknipste. Bei dem rhythmischen Surren und Rattern war sie in wenigen Minuten eingeschlafen.
Im schräg durch die Fenster einfallenden frühen Morgenlicht tapste Kyle durch das Schlafzimmer und krabbelte zu Denise ins Bett. Sein Tag konnte beginnen. Er flüsterte: »Wak au, Mani, wak au«, und als sie sich mit einem Brummeln umdrehte, kletterte er auf sie und versuchte, ihr mit seinen kleinen Fingern die Augenlider zurückzuschieben. Zwar gelang es ihm nicht, aber er fand es sehr lustig und lachte ansteckend. »Aun au, Mani«, sagte er immer wieder, und obwohl es noch so früh war und er sie aus dem Schlaf riss, musste sie lachen.
Der Morgen ließ sich sehr gut an, denn kurz nach neun rief Judy an und fragte, ob ihre Verabredung noch gelte. Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten – Judy würde am folgenden Tag vorbeikommen, hurra! –,
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