Das Schweigen des Glücks
hatte. Zugegeben, an dem Abend war sie etwas lädiert gewesen, aber er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie unter normalen Umständen aussehen würde. Nicht, dass sie besonders Aufsehen erregend oder elegant aussah; es war eher eine natürliche Schönheit, die sie ausstrahlte. Sie war eine Frau, die wusste, dass sie attraktiv war, sich aber nicht den ganzen Tag damit beschäftigte.
»Ja. Hat di funden«, sagte Kyle wieder, wobei er bekräftigend mit dem Kopf nickte und Taylors Gedanken unterbrach. Taylor war froh, dass er einen Grund hatte, sich wieder Kyle zuzuwenden. Er fragte sich, ob Denise seine Gedanken erriet.
»Das ist richtig«, sagte er, während seine Hand freundlich auf Kyles Schulter lag, »aber du, kleiner Mann, du warst sehr tapfer.«
Denise betrachtete ihn, während er mit Kyle sprach. Trotz der Hitze trug er Jeans und Arbeitsstiefel. Die Stiefel waren staubig und sahen aus, als trüge er sie ständig. Das dicke Leder war zerkratzt und abgestoßen. Sein weißes, kurzärmeliges Hemd machte seine kräftigen Muskeln unter der sonnengebräunten Haut sichtbar – die Arme eines Menschen, der den ganzen Tag körperlich arbeitete. Als er sich aufrichtete, schien er ihr größer als in ihrer Erinnerung.
»Es tut mir Leid, dass ich ihn fast umgerannt hätte«, sagte er leise, »ich habe ihn nicht gesehen, als ich reinkam.«
Er verstummte, als wusste er nicht, was er weiter sagen sollte, und Denise spürte eine Schüchternheit, mit der sie nicht gerechnet hatte.
»Ich habe es gesehen. Sie haben keine Schuld. Er hat sich an Sie herangeschlichen.«
Sie lächelte. »Ich bin Denise Holton. Ich weiß, dass wir uns schon kennen, aber der Abend liegt für mich in einem ziemlich dichten Nebel.«
Sie streckte ihm die Hand hin und er nahm sie. Denise konnte die Schwielen auf seiner Handfläche fühlen.
»Taylor McAden«, sagte er. »Ich habe Ihren Brief bekommen. Vielen Dank.«
»Feuaman«, sagte Kyle wieder, diesmal lauter als zuvor. Er rieb die Hände und verschlang sie miteinander auf fast zwanghafte Art. Das machte er immer, wenn er aufgeregt war.
»Drossa Feuaman.«
Er betonte das Wort
groß.
Taylor runzelte die Stirn. Er legte eine Hand auf Kyles Fahrradhelm und schuckelte den Helm hin und her. Es war eine freundliche, fast brüderliche Geste. Kyles Kopf bewegte sich im Rhythmus mit Taylors Hand. »Findest du, hm?«
Kyle nickte. »Drossa.«
Denise lachte. »Ich glaube, das ist ein Fall von Heldenverehrung. «
»Na, das beruht auf Gegenseitigkeit, kleiner Mann. Du hast mehr gemacht als ich.«
Kyles Augen waren rund. »Drossa.«
Wenn es Taylor aufgefallen war, dass Kyle ihn nicht verstanden hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen zwinkerte er Kyle zu. Nett.
Denise räuperte sich. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, Ihnen persönlich für das zu danken, was Sie an dem Abend getan haben.«
Taylor zuckte mit den Schultern. Bei einigen Menschen hätte das arrogant gewirkt, als wüssten sie, dass sie etwas Fantastisches geleistet hatten. Aber bei Taylor schien es eher auszudrücken, dass er seit dem Abend nicht weiter darüber nachgedacht hatte.
»Ach, das macht doch nichts«, sagte er. »Ihr Brief war doch genug.«
Einen Moment lang schwiegen sie beide. Als langweilte ihn die Unterhaltung längst, war Kyle inzwischen zu dem Süßigkeitenregal gegangen. Beide sahen ihm zu, wie er auf halbem Wege stehen blieb und die bunten Päckchen eingehend betrachtete.
»Er sieht gut aus«, sagte Taylor schließlich in das Schweigen hinein. »Kyle, meine ich. Nach dem, was passiert ist, habe ich mich gefragt, wie es ihm wohl geht.«
Denise folgte seinen Augen mit ihrem Blick. »Anscheinend hat er nichts zurückbehalten. Die Zeit wird es vermutlich zeigen, aber im Moment mache ich mir keine Sorgen um ihn. Der Arzt hat ihm beste Gesundheit bescheinigt.«
»Und Sie?«, fragte er.
Sie antwortete automatisch, ohne nachzudenken. »Ach, wie immer.«
»Nein… ich meine Ihre Verletzungen. Sie waren ganz schön zugerichtet, als ich Sie das letzte Mal sah.«
»Oh… ach, das geht schon«, sagte sie.
»Nur ›geht schon‹?«
Ihr Gesicht wurde weicher. »Besser als geht schon. Es tut immer noch ein bisschen weh, hier und da, aber sonst fühle ich mich gut. Es hätte schlimmer sein können.«
»Das freut mich. Ich hatte mir Sorgen um Sie gemacht.«
Etwas an seiner ruhigen Art zu sprechen veranlasste Denise, ihn sich genauer anzusehen. Er war zwar nicht umwerfend attraktiv, aber etwas
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