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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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sowieso nicht gleichzeitig verfolgen kann, ist ihm erst bewusst geworden, als er schon wieder im Hausflur stand. Dorthin hat nämlich die Feuertreppe an der westlichen Außenwand des Gebäudes geführt, die ihm, wenn schon nicht gerade die Haut, so doch das Gesicht gerettet hat. In letzter Sekunde hat er sie entdeckt, die filigrane, gefährlich verrostete Konstruktion, und er hat nicht lange gezögert, sie einem Belastungstest zu unterziehen. Wer dabei mehr gezittert hat, die Treppe oder er, lässt sich im Rückblick nicht mehr feststellen. Im fünften Stock jedenfalls ist er durch ein zerbrochenes Fenster zurück ins Stiegenhaus geklettert, obwohl sich das eiserne Fallreep die ganze Fassade entlang bis in den Mezzanin gezogen hat. Aber genug ist genug; man muss das seltene Glück, das einem das Leben beschert, nicht auch noch auf die Probe stellen   …
     
    Er steht auf dem Gehsteig unweit des Haustors und wartet. Wartet einerseits darauf, dass sich seine weichen Knie stabilisieren. Wartet aber auch auf das nervöse Quartett, das seinen Besuch bei Pokorny so plötzlich gestört hat. Was wollten die vier? Was sollten ihr mysteriöses Gerede, ihre Streitereien, ihre gegenseitigen Verdächtigungen? Und vor allem: Was verbindet sie mit dem verschollenen Nachtwächter, dessen dürftiges Gehalt anscheinend dazu ausreicht, sich einen echten Riedmüller zu leisten?
    Während seine Blicke auf dem verlassenen Portal ruhen, kreisen seine Gedanken um das zerstörte Gemälde in Pokornys Pavillon. Und um das andere Bild in Jochen Hörtnagls Loft.
    Ein Zufall? Wahrscheinlich, beschließt er, wahrscheinlich. Aber nicht sicher   …
    Eine halbe Stunde etwa bleibt der Lemming noch auf seinem Posten, doch die vier lassen sich nicht mehr blicken. Wahrscheinlich, so vermutet er schließlich, sind sie sofort auf die Straße gelaufen, um nach seinem vermeintlich zerschmetterten Körper zu sehen, und sind dann – zeternd, zankend und verwirrt – ihrer Wege gegangen.
    Der Lemming setzt sich nun selbst in Bewegung und wandert – ein wenig schwankend noch – stadteinwärts. In der Augasse sucht er sich vor dem lang gestreckten Gebäude der Wirtschaftsuniversität eine Parkbank, zieht sein magisches Ei aus der Tasche und tippt Hörtnagls Nummer ein.
    «Ja?»
    «Guten Abend, Herr   … Kommerzialrat.»
    «Wallisch! Na endlich! Warum so spät?»
    «Spät? Nichts für ungut, Herr Kommerzialrat, aber   …»
    «Ja, ja, schon in Ordnung. Also sagen S’ schon, was können S’ mir berichten? Haben Sie was herausgefunden?»
    «Ja   … irgendwie schon. Es gibt da einen Verdächtigen, obwohl   … Wie soll ich sagen   … Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Jedenfalls nicht hundertprozentig   …»
    «Also was jetzt?», fährt Hörtnagl dazwischen. «Kommen S’, kommen S’, Zeit ist Geld   …»
    Wenn Zeit wirklich Geld wäre, denkt der Lemming ärgerlich, dann hätte Hörtnagl eindeutig mehr davon. Unablässig auf der Jagd nach beidem, scheint ihm der Unterschied gar nicht mehr aufzufallen: Während ihm das eine entgegenkommt, läuft ihm das andere weg.
Zeit ist Geld:
Als würde ein Förster behaupten, Hirsch sei Hund   …
    «Na kommen Sie, reden Sie schon! Ich hab meine Zeit nicht gestohlen!»
    Ob sich da gerade jemand selbst widerlegt hat? Wie auch immer, der Lemming unterdrückt jeden weiteren stummenKommentar. Er antwortet, und sei es auch nur, um Hörtnagls Phrasenstakkato ein Ende zu setzen.
    «Der Mann heißt Pokorny. Sie wissen schon: der Kollege, über den wir gesprochen haben. Den ich Samstagnacht vertreten hab   …»
    «Ach   … Pokorny also   … Na wunderbar, Wallisch! Recht so! Dann gehen Sie und finden Sie den Mann!»
    «Ja   … Es ist nur   … Ich hätte da noch eine Frage an Sie.»
    «Schießen Sie los.»
    «Es geht um das Bild über Ihrem Schreibtisch, dieses Riedmüller-Gemälde   …»
    «Was ist damit?»
    «Ein ähnliches Bild hab ich heute   …» Der Lemming verstummt. Schließt die Augen. Wartet darauf, dass die Logik der Eingebung folgt, die ihn nun heiß und jählings überkommt   … Was war das? Was hat Hörtnagl gerade gesagt? Gehen Sie und
finden
Sie den Mann? Und woher, bitte, will er wissen, dass man Pokorny überhaupt
suchen
muss? Dass Pokorny spurlos verschwunden ist?
    «Also   … ein ähnliches Bild hab ich heute in einer Galerie gesehen, drinnen im ersten Bezirk   …»
    «Ja und? Der Riedmüller hat nicht nur eines gemalt.»
    «Natürlich. Aber was mich interessiert hat, ist  

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