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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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du sicher?«
    »Ohne jeden Zweifel. Die Krankheit ist schon ziemlich weit fortgeschritten.«
    »Das kümmert hier keinen. Ist es ernst?«
    »Allerdings.«
    »Was muss ich tun?«, fragte er und riss ihm das Stethoskop aus der Hand.
    »Ich würde Sie in ein Sanatorium einweisen. Das ist das Einzige, was man überhaupt tun kann.« Epstein zeigte auf die gelben Finger des Offiziers. »Und um Himmels willen keine Zigaretten.«
    Der Offizier rief nach den Wachen und befahl ihnen, Chaim in den Duschraum zu bringen, aber einer der beiden Wachleute erklärte ihm, für heute sei Feierabend, der letzte Schwung sei schon durch. Der SS-Mann zog seinen Mantel an, und während er, begleitet von seinem hartnäckigen Husten, zu den Gebäuden hinunterging, rief er zurück: »Schafft ihn in die Baracke sechsundzwanzig.«
    Und das rettete ihm das Leben. Aber er sagte oft, diese Rettung sei für ihn eine schlimmere Strafe gewesen als der Tod.
    »So etwas Grausiges kann ich mir gar nicht vorstellen.«
    »Und dabei weißt du längst noch nicht alles.«
    »Erzähl’s mir.«
    »Nein. Ich kann nicht.«
    »Klar kannst du.«
    »Komm, ich zeige dir die Bilder im Wohnzimmer.«
    Sara zeigte ihm die Gemälde im Wohnzimmer, sie zeigte ihm Familienfotos und erklärte ihm ausführlich, um wen es sich bei den Abgebildeten handelte, doch als sich die Stunde näherte, zu der jemand nach Hause kommen könnte, sagte sie, du musst jetzt gehen. Komm, ich begleite dich ein Stück.
    Und darum lernte ich deine Familie nicht kennen.

21
    Keine Kunst wurde von der Sophistik so systematisch gepflegt und entwickelt wie die Redekunst. Sara. Die Sophistik hatte in der Redekunst das ideale Werkzeug zur Beherrschung der Menschen erkannt. Sara, warum wolltest du kein Kind? Dank der Sophistik und ihrer Rhetorik wurde aus öffentlichen Ansprachen Literatur, indem man begann, Reden wie Kunstwerke zu betrachten, die es verdienten, schriftlich festgehalten zu werden. Sara. Fortan galt rhetorische Bildung als unverzichtbar für eine Karriere als Staatsmann, wobei der Einflussbereich der Rhetorik jedoch die gesamte Prosa umfasste, insbesondere die der Geschichtsschreibung. Sara, du bist mir ein Rätsel. Das erklärt, warum in der Literatur des 4. Jahrhunderts vor Christus der Prosa die bestimmende Rolle zukam und nicht der Poesie. Sonderbar. Aber folgerichtig.
    »Menschenskind, wo steckst du denn? Ich habe dich überall gesucht.«
    Adrià, der in Isokrates und die neue Erziehung vertieft gewesen war, hob den Kopf von dem bei Kapitel fünfzehn aufgeschlagenen Nestle und brauchte einen Moment, bis er das Gesicht erkannte, das sich in den Lichtkegel der grünbeschirmten Leselampe der Universitätsbibliothek geschoben hatte. Jemand verlangte Ruhe, und Bernat musste die Stimme senken, als er sich Adrià gegenüber setzte und sagte, seit einem Monat sei Adrià nicht zu erreichen; nein, der ist ausgegangen, ich weiß nicht, wohin; Adrià? Der ist den ganzen Tag weg. Also, hör mal … Nicht einmal bei dir zu Hause wissen sie, wo du dich herumtreibst!
    »Jetzt siehst du es ja. Ich lerne.«
    »Quatsch, ich verbringe hier täglich mehrere Stunden.«
    »Du?«
    »Ja. Und freunde mich mit hübschen Mädchen an.«
    Es war nicht leicht, aus dem 4. Jahrhundert vor Christusin die Gegenwart zurückzukehren, zumal Bernat es offenbar darauf angelegt hatte, ihm Vorhaltungen zu machen.
    »Wie geht’s dir denn so?«
    »Wer ist diese Frau, die sich wie eine Zecke an dir festgebissen haben soll?«
    »Wer sagt das?«
    »Jeder. Gensana hat sie mir sogar beschrieben: dunkle glatte Haare, schlank, dunkle Augen, Kunststudentin.«
    »Dann weißt du ja schon alles …«
    »Ist es die aus dem Palau de la Música, die dich mit Adrià Ichweißnichtwieweiter angesprochen hat?«
    »Du solltest dich für mich freuen, findest du nicht?«
    »Oje, du bist doch nicht etwa verliebt.«
    »Würdet ihr bitte den Mund halten!«
    »Entschuldigung.« Und zu Bernat. »Gehen wir raus?«
    Sie bummelten durch den Kreuzgang, und Adrià sprach es zum ersten Mal aus und sagte, er sei entschieden, absolut, hingebungsvoll, bedingungslos verliebt in dich, Sara. Und sag bei mir zu Hause nichts davon.
    »Ach, es ist also so geheim, dass es nicht einmal Lola Xica weiß.«
    »Ich hoffe, nicht.«
    »Aber früher oder später …«
    »Das werden wir sehen, wenn es so weit ist.«
    »Unter diesen Umständen nehme ich nicht an, dass jemand, der einmal dein bester Freund war und allmählich zu einem entfernten Bekannten verkommt, mit deiner

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