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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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musste für beide Familien ein Geheimnis bleiben. Ich wusste nicht genau, warum; aber du wusstest es. Und ich ließ mich durch diese Tage unablässigen Glücks treiben, ohne Fragen zu stellen.

22
    Adrià dachte, wie gern wäre er imstande, so etwas wie die Griechische Geistesgeschichte zu schreiben. Das war ein mögliches Zukunftsmodell: zu schreiben und zu denken wie Nestle. Und es gab noch viele andere Modelle, denn es waren intensive Monate voll erster Erfahrungen, eine lebendige, heroische, unwiederholbare, epische, großartige, prachtvolle Zeit; an Sara zu denken und sie zu erleben vervielfachte seine Lust und seinen Elan, zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen, ungeachtet der alltäglichen Polizeiaktionen gegen jeden, der nach Student aussah, ein Synonym für Kommunist, Freimaurer, Katalanist und Jude, die vier Plagen, die das Franco-Regime mit Schlägen und Schüssen ausmerzen wollte. Doch du und ich, wir nahmen diese Finsternis gar nicht wahr, wir studierten den ganzen Tag, blickten in die Zukunft, ich blickte dir tief in die Augen und sagte, ich liebe dich, Sara, ich liebe dich, Sara, ich liebe dich, Sara.
    »Howgh.«
    »Was?«
    »Du wiederholst dich.«
    »Ich liebe dich, Sara.«
    »Ich dich auch, Adrià.«
    Nunc et semper. Adrià seufzte zufrieden. War er zufrieden? Ich fragte ich mich ziemlich oft, ob ich mit meinem Leben zufrieden war. In jenen Monaten, wenn ich auf Sara wartete, musste ich zugeben, dass ich es war, dass ich zufrieden war, dass ich Freude am Leben hatte, denn in höchstens zwei Minuten würde eine Frau mit glattem dunklem Haar, dunklen Augen, Kunststudentin, in einem Schottenrock, in dem sie sehr hübsch aussah, lächelnd bei der Konditorei um die Ecke biegen und hallo, Adrià, sagen. Noch wagten wir nicht, uns mitten auf der Straße zu küssen, weil ich wusste, dass mich jeder sehen konnte, uns sehen konnte, mit dem Finger aufuns zeigen und sagen würde, noch nicht trocken hinter den Ohren und schon heimlich verliebt … Es war ein bewölkter, grauer Tag, aber für mich schien strahlend die Sonne. Zehn nach acht, das ist ungewöhnlich. Sie ist immer so pünktlich wie ich. Und jetzt warte ich schon zehn Minuten. Sie ist krank. Eine Halsentzündung. Sie ist von einem Taxi überfahren worden, das Fahrerflucht begangen hat. Es ist ihr ein Blumentopf aus dem sechsten Stock auf den Kopf gefallen. Großer Gott, ich werde alle Krankenhäuser Barcelonas absuchen müssen. Immer mit der Ruhe, da ist sie! Nein, es war eine schlanke Frau mit glattem dunklem Haar, aber mit hellen Augen und geschminkten Lippen und mindestens zwanzig Jahre älter, die an der Straßenbahnhaltestelle vorüberging und bestimmt nicht Sara hieß. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Er hob den Kopf. Die Platanen auf der Gran Via trieben neue Blätter, was dem vorbeibrausenden Autoverkehr vollkommen gleichgültig war. Mir nicht! Der Kreislauf des Lebens! Der Frühling … Er musste an Rosalía de Castros Neue Blätter denken: Was geschieht um mich herum? Was widerfährt mir, ohne dass ich es weiß? Wieder schaute er auf die Uhr. Unfassbar, zwanzig Minuten Verspätung. Weitere drei oder vier Straßenbahnen kamen, und ihn befiel eine seltsame Vorahnung, gegen die er sich nicht wehren konnte. Sara. Trotz seiner bösen Ahnung blieb Adrià Ardèvol zwei Stunden auf der Steinbank der Straßenbahnhaltestelle an der Gran Via sitzen, die Augen auf die Ecke der Konditorei gerichtet, ohne an die Griechische Geistesgeschichte zu denken, weil ihm tausend Katastrophen durch den Kopf spukten, denen Sara zum Opfer gefallen sein könnte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sara ist krank, krank ist sie wie Amèlia, die Tochter des guten Königs aus dem alten Volkslied, die von der eigenen Mutter vergiftet wurde. Ärzte kommen ins Haus, Ärzte und andre Leut. Es hatte keinen Sinn, weiter zu warten. Doch er wusste nicht, was er tun sollte. Da Sara nicht gekommen war, wusste er mit seinem Leben nichts mehr anzufangen. Ganz von selbst schlugen seine Füße den Weg zu ihrem Haus ein, trotz des strikten Verbots seiner Liebsten. Aber er musste unbedingtdort sein, wenn der Krankenwagen sie fortbrachte. Die Tür war zu, durch die Scheibe sah man jedoch den Pförtner im Hausflur vor den Briefkästen stehen und die Post verteilen. Eine kleine Frau fuhr mit dem Staubsauger über den Läufer. Der Pförtner hatte seine Tätigkeit beendet und öffnete die Tür. Der Lärm des Staubsaugers dröhnte Adrià entgegen wie eine Beleidigung. Der

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