Das Schweigen des Sammlers
Unterstützung rechnen kann, weil sich ja jetzt alles nur noch um dieses bezaubernde Mädchen dreht … wie heißt sie eigentlich?«
»Mireia.«
»Lügner. Sie heißt Sara Voltes-Epstein.«
»Warum fragst du dann?«
»Und warum musst du mich anlügen? Was hast du zu verbergen? Red schon. Ich bin immer noch Bernat, verflixt noch mal.«
»Hab dich nicht so.«
»Doch, denn das Leben vor dieser Sara zählt für dich anscheinend überhaupt nicht mehr.«
Bernat streckte Adrià die Hand hin, und dieser drückte sie leicht erstaunt.
»Sehr angenehm, Senyor Ardèvol. Ich heiße Bernat Plensa i Punsoda und war bis vor ein paar Monaten dein bester Freund. Würdest du mir eine Audienz gewähren?«
»Mannomann.«
»Was denn?«
»Du spinnst ein bisschen.«
»Nein. Ich bin gekränkt. Freunde sind das Wichtigste. Und Punkt.«
»Das eine schließt das andere nicht aus.«
»Da täuschst du dich.«
Isokrates lässt sich keiner philosophischen Richtung zuordnen. Isokrates pickt sich aus allem das heraus, was er für richtig hält. Purer Synkretismus und keine Spur von systematischer Philosophie. Sara. Bernat sah ihn an und hinderte ihn am Weiterlesen. »Woran denkst du?«
»Ich weiß nicht. Mein Kopf ist völlig …«
»Zum Kotzen, so ein verliebter Kerl.«
»Ich weiß nicht, ob ich verliebt bin.«
»Verdammt, hast du nicht selbst gesagt, du seist entschieden, absolut, hingebungsvoll, bedingungslos verliebt? Das hast du doch erst vor einer Minute erklärt.«
»Aber im Grunde weiß ich gar nicht, was mit mir los ist. So etwas … so etwas habe ich noch nie empfunden, ich weiß nicht, wie ich es dir beschreiben soll.«
»Ich glaube schon, dass es das ist.«
»Dass es was ist?«
»Dass du verliebt bist.«
»Aber du warst doch noch nie verliebt.«
»Woher willst du das wissen?«
Sie setzten sich auf eine Bank im Kreuzgang, und Adrià dachte, dass Isokrates sich durchaus für die Sophisten interessiert hatte, wenn auch nur in Bezug auf bestimmte Fragen. Beispielsweise für Xenophanes’ Idee des kulturellen Fortschritts (ich werde Xenophanes lesen müssen). Und für Philipp II. von Makedonien, weil der die Bedeutung der Persönlichkeit für die Geschichte erkannt hatte. Seltsam.
»Bernat.«
Bernat tat, als hätte er ihn nicht gehört, und blickte in eine andere Richtung. Adrià wiederholte: »Bernat.«
»Was ist?«
»Was hast du?«
»Ich bin fix und fertig.«
»Warum?«
»Weil im Juni die Abschlussprüfung für die neunte Klasse ist und noch nichts, gar nichts, nicht das Geringste wirklich sitzt.«
»Ich werde da sein und dir zuhören.«
»Meinst du nicht, du bist zu beschäftigt mit diesem atemberaubenden Mädchen?«
»Und wenn du magst, kannst du zu mir kommen, oder ich komme zu dir, und wir üben zusammen.«
»Ich will dich nicht von deiner Balz um deine Traumfrau Mireia ablenken.«
Schlussendlich vermittelte Isokrates’ Athener Schule keine Philosophie, sondern das, was in Rom humanitas hieß und was wir heute Allgemeinbildung nennen, all das, was an Platons Akademie ausgeklammert wurde. Wie gern ich sie dabei durchs Schlüsselloch beobachtet hätte. Und Sara und ihre Familie auch.
»Ich verspreche dir, dass ich da sein werde. Und wenn du willst, bringe ich sie mit.«
»Nein. Nur meine Freunde.«
»Du bist gemein.«
»Howgh.«
»Was?«
»Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Worauf?«
»Dass du verliebt bist.«
»Und wie willst du das wissen?«
Der Arapaho-Häuptling schwieg würdevoll. Glaubte dieser Grünschnabel etwa, er würde ihm seine Erlebnisse und Gefühle anvertrauen? Carson spuckte auf den Boden und bekräftigte: »Das sieht man dir meilenweit an. Sogar deine Mutter dürfte es schon bemerkt haben.«
»Meine Mutter hat nur Augen für den Laden.«
»Glaub das nur nicht.«
Isokrates. Xenophanes. Sara. Bernat. Synkretismus. Geigenexamen. Sara. Philipp von Makedonien. Sara. Sara. Sara.
Sara. Tage, Wochen, Monate verbrachte ich an deiner Seite, ohne dieses uralte Schweigen zu brechen, in das du dich häufig hülltest. Du warst ein Mädchen mit traurigem und doch wundersam heiterem Blick. Und ich erledigte mein Lernpensum mit stetig wachsender Tatkraft, weil ich wusste, dass ich dich hinterher treffen, in deinen Augen versinken, mit dir in verstohlenem Glück auf der Plaça Sant Jaume Würstchen essen oder durch den Parc de la Ciutadella spazieren würde; immer unter freiem Himmel, nie bei dir oder bei mir, es sei denn, wir waren sicher, dass niemand zu Hause war, denn unser Geheimnis
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