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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Pförtner in seiner albernen Schürze spähte in den Himmel, um zu sehen, ob es regnen oder sich das Wetter noch halten würde. Oder vielleicht wartete er auch auf den Krankenwagen … Ach, Tochter, meine Tochter, was hat man dir getan? Ach, Mutter, meine Mutter, Ihr wisst es doch genau. Er war sich nicht sicher, welcher Balkon … Der Blick des Pförtners fiel auf den Jungen, der sich seit mehreren Minuten vor dem Haus herumtrieb und hinaufschaute, und wurde misstrauisch. Adrià tat, als wartete er auf ein Taxi; womöglich das, von dem Sara überfahren worden war. Er ging einige Schritte die Straße hinab. Ich habe Angst vor etwas, das lebt und das man doch nicht sehen kann. Ich habe Angst vor dem tückischen Unglück, das kommt, und von dem man doch nie weiß, woher es kommt. Sara, wo bist du?
    »Sara Voltes?«
    »Wer ist da, bitte?«, fragte eine elegante, selbstsichere, gut gekleidete, damenhafte Stimme.
    »Also, ich … Von der Gemeinde Sankt … Wegen der Zeichnungen, der Ausstellung von …«
    Wenn man schon eine Ausrede erfindet, sollte man sie sich, verdammt noch mal, wenigstens vorher überlegen. Du kannst doch nicht drauflos stürmen und dann dastehen und kein Wort herausbringen, du Blödmann. Von der Gemeinde Sankt. Wegen der Zeichnungen. Wie dumm. Wie entsetzlich dumm. Kein Wunder, dass die elegante, selbstsichere Damenstimme sagte, ich glaube, Sie haben sich in der Adresse geirrt, und sacht, höflich, leise den Hörer auflegte, und ich hätte mich ohrfeigen können, als ich erkannte, dass ich der Lage nicht gewachsen war. Wahrscheinlich war es Saras Mutter gewesen. Es ist das Gift, das Ihr mir gabt, das Herz schnürt es mir ab. Adriàlegte mit dem Gefühl auf, sich absolut kindisch benommen zu haben. Im hinteren Teil der Wohnung war Lola Xica dabei, die Betten frisch zu beziehen, und machte sich an den Wäscheschränken zu schaffen. Auf dem großen Tisch des Arbeitszimmers stapelten sich seine Bücher, doch Adrià hatte nur Augen für das nutzlose Telefon, das er nicht dazu bringen konnte, ihm zu sagen, wo Sara war.
    Die Kunstakademie! Dort war er noch nie gewesen. Er wusste nicht, wo sie war und ob es sie überhaupt gab. Wir haben uns stets an neutralen, von dir gewählten Orten getroffen und auf ein Licht am Horizont gehofft. Als ich auf der Avinguda Jaume I aus der U-Bahn kam, hatte es angefangen zu regnen, und weil ich in Barcelona nie einen Schirm bei mir trug, musste ich mir mit der kläglichen Geste behelfen, Kragen und Revers meiner Jacke hochzuschlagen. Ich gelangte zur Plaça de la Verònica und stand vor einem eigentümlichen neoklassizistischen Bau, von dessen Existenz ich bis dahin nichts gewusst hatte. Keine Spur von Sara, weder drinnen noch draußen, in keinem Flur, in keinem Hörsaal, in keiner Werkstatt. Ich betrat das ehemalige Börsengebäude, doch konnte mir niemand Auskunft geben. Mittlerweile war ich völlig durchnässt. Doch mit einem Mal fiel mir die Escola Massana ein, und dort sah ich sie am Eingang stehen, von hinten, unter einem dunklen Regenschirm, und lachend mit einem Jungen plaudern. Sie trug den kürbisfarbenen Schal, der ihr so gut stand. Und unvermittelt küsste sie den Jungen auf die Wange, wofür sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, und Adrià spürte zum ersten Mal den brutalen Stich der Eifersucht und eine unerträgliche Atemnot. Dann ging der Junge ins Schulgebäude, und sie wandte sich um und kam auf mich zu, und das Herz wollte mir zerspringen. Sie grüßte mich nicht; sie beachtete mich nicht; es war nicht Sara. Es war ein schlankes Mädchen mit glattem dunklem Haar, aber hellen Augen, und vor allem war es nicht Sara. Und ich ließ mich weiter nassregnen und fühlte mich glücklich unglücklich.
    »Nein, ich … Ich studiere mit ihr zusammen Kunst und …«
    »Sie ist nicht da.«
    »Verzeihung?«
    »Sie ist nicht da.«
    War das ihr Vater? Ich wusste nicht, ob sie einen älteren Bruder hatte oder ob, außer dem Andenken an Onkel Chaim, noch ein Onkel bei ihnen wohnte.
    »Aber …, was soll das heißen, nicht da?«
    »Sara lebt jetzt in Paris.«
    Er verstand die Welt nicht mehr; wie war es möglich, dass Sara …, sie hatte mir gar nichts davon gesagt. Von einem Tag auf den anderen, Sara. Bei unserem letzten Treffen am Freitag hatten wir uns doch an der Straßenbahnhaltestelle verabredet! Linie siebenundvierzig, ja, wie immer, seit wir … Und was hat sie in Paris zu suchen? Warum ist sie geflohen? Was habe ich ihr getan?
    Während der folgenden zehn

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