Das Schweigen des Sammlers
hinauf. Dritter Stock, erste Tür. Die Klingel machte erst ding und dann dong, wie eine Glocke. Dann war es still. Von der schmalen, sonnenlosen Straße am äußersten Ende von Barceloneta drang Kindergeschrei zu ihm herauf. Als er schon dachte, er hätte sich geirrt, hörte er ein gedämpftes Geräusch hinter der Tür, und sie öffnete sich sacht und leise. Ich habe es dir nie erzählt, Sara, aber dies war wahrscheinlich der wichtigste Tag in meinem Leben. Die Hand an der Tür, älter und müder, aber so ordentlich und adrett wie eh und je, sah sie mir ein paar Sekunden lang schweigend in die Augen, wie um zu erforschen, was ich hier wolle. Dann öffnete sie die Tür ganz und trat beiseite, um mich einzulassen. Erst als sie die Tür wieder geschlossen hatte, sagte sie, bald bist du kahl.
Wir traten in einen winzigen Raum, der Esszimmer und Wohnzimmer zugleich war. An einer Wand prangte der Urgell mit dem Kloster von Santa Maria de Gerri, wie immer beschienen von der hinter Trespui untergehenden Abendsonne. Adrià erklärte entschuldigend, er habe erfahren, dass sie krank sei, und da …
»Woher weißt du das?«
»Von einem befreundeten Arzt. Wie fühlst du dich?«
»Überrascht, dich hier zu sehen.«
»Nein, ich meine gesundheitlich.«
»Ich werde bald sterben. Willst du einen Tee?«
»Ja.«
Sie verschwand im Flur. Die Küche war gleich nebenan. Beim Anblick des Bildes hatte Adrià das Gefühl, einem Freund von früher wiederzubegegnen, der in all den Jahren kein bisschen gealtert war. Er sog den Frühlingsduft der Landschaft ein, vernahm das Murmeln des Baches und spürte, wie kalt es war, als Ramon de Nolla sich seinem Opfer näherte. So stand er da, in die Betrachtung des Bildes versunken, bis er hinter sich Lola Xica hereinkommen hörte. Sie trug ein Tablett mit zwei Tassen darauf. Adrià fiel die Nüchternheit der Wohnung auf, die so winzig war, dass sie mühelos in seinem Arbeitszimmer Platz gefunden hätte.
»Warum bist du nicht bei mir wohnen geblieben?«
»Hier geht’s mir gut. Das war mein Zuhause, bevor und nachdem ich bei deiner Mutter gelebt habe. Ich beklage mich nicht. Hörst du? Ich beklage mich nicht. Ich bin jetzt über siebzig, älter als deine Eltern je geworden sind; und ich habe das Leben gelebt, das ich wollte.«
Sie setzten sich an den Tisch und tranken einen Schluck Tee. Adrià empfand die Stille als wohltuend. Nach einer Weile sagte er: »Es ist nicht wahr, dass ich langsam kahl werde.«
»Das sagst du nur, weil du deinen Hinterkopf nicht sehen kannst. Du siehst aus wie ein Franziskanermönch.«
Adrià lächelte. Das war die Lola Xica, die er kannte. Und sie war immer noch der einzige Mensch auf der Welt, den er niemals angewidert die Nase hatte rümpfen sehen.
»Der Tee ist köstlich.«
»Ich habe dein Buch bekommen. Es ist schwer zu lesen.«
»Ich weiß, aber ich wollte, dass du es hast.«
»Was treibst du denn noch außer Schreiben und Lesen?«
»Geige spielen. Stundenlang. Ganze Tage und Monate.«
»Na so was! Und warum hast du es dann damals aufgegeben?«
»Es hat mich erstickt. Damals hieß es: die Geige oder ich. Und ich habe mich für mich entschieden.«
»Bist du glücklich?«
»Nein. Und du?«
»Ja. Ziemlich. Nicht ganz.«
»Kann ich etwas für dich tun?«
»Ja. Warum bist du so niedergeschlagen?«
»Weil … Ich muss immer daran denken, dass du dir einegrößere Wohnung kaufen könntest, wenn du das Bild verkaufen würdest.«
»Du verstehst gar nichts, du Kindskopf.«
Beide schwiegen. Lola Xica warf dem Urgell einen Blick zu, dem man anmerkte, dass sie diese Landschaft oft betrachtete und – ohne sich dessen bewusst zu sein – die Kälte spürte, die dem fliehenden Fra Miquel de Susqueda durch Mark und Bein ging, als er auf dem Weg nach Burgal war, auf der Suche nach einer Zuflucht vor der Bedrohung durch die göttliche Gerechtigkeit. Sie schwiegen vielleicht fünf Minuten lang, während sie Tee tranken und der Erinnerung an Augenblicke ihres Lebens nachhingen. Dann sah Adrià ihr in die Augen und sagte, Lola Xica, ich liebe dich sehr; du bist ein feiner Mensch. Sie trank ihren Tee aus, senkte den Kopf, schwieg lange und sagte dann, das ist nicht wahr, weil deine Mutter damals zu mir gesagt hat, Lola Xica, du musst mir helfen.
»Was willst du, Carme?« Der Tonfall ihrer Freundin ließ sie aufhorchen.
»Kennst du dieses Mädchen?«
Carme legte ein Foto einer hübschen jungen Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen auf den Küchentisch. »Hast du
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