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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Besessenheit der Fleischeslust, immer auf der Suche nach dem Vergessen und der Erlösung, die er in der Buße nicht hatte finden können. Er war wahrhaftig eine verlorene Seele. Das gütige Lächeln von Bruder Julià de Carcassonne, dem Pförtner der Benediktinerabtei von La Grasse, wo er in einer eisigen Winternacht um Herberge bat, warf unversehens ein Licht auf seinen Weg. Aus der einen Nacht wurden zehn Tage, in denen er in der Abteikirche, dicht an der Mauer, weit entfernt von den Sitzplätzen der Klosterbrüder, auf den Knien lag und betete. Im Kloster Santa Maria de La Grasse hörte er zum ersten Mal von Burgal, einem so abgeschiedenen Zönobium, dass es hieß, dort würde man nicht nass, weil der Regen zu erschöpft wäre, bis er eserreichte. Er bewahrte Bruder Juliàs Lächeln, das durchaus ein Lächeln der Glückseligkeit sein konnte, tief in sich wie einen geheimen Schatz und lenkte seine Schritte, wie ihm die Mönche in La Grasse empfohlen hatten, zunächst zu der Abtei Santa Maria de Gerri. Mit dem, was er am Leib trug, einer Tasche voll mildtätiger Wegzehrung und dem geheimen seligen Lächeln ausgerüstet, begann er seinen Aufstieg in die Berge und den ewigen Schnee, in die Welt immerwährender Stille, wo er mit ein wenig Glück Erlösung finden würde. Er durchquerte Täler, überwand Hügel und watete mit seinen zerfetzten Sandalen durch das eisige Wasser der Flüsse, die dem Schnee entsprangen. Als er in der Abtei Santa Maria de Gerri eintraf, bestätigte man ihm, das Priorat Sant Pere de Burgal sei so abgelegen und einsam, dass man zweifle, ob ein Gedanke dort vollständig ankomme. Und was immer der Prior von Sant Pere für ihn verfüge, so versicherte man ihm, werde der Abt von Santa Maria gutheißen.
    Nach wochenlanger Wanderung, gealtert, obwohl er noch keine vierzig war, schlug er laut ans Klostertor von Sant Pere. Es war ein kalter, grauer Spätnachmittag, der Vespergottesdienst war vorüber, und die Mönche setzten sich gerade zum Abendessen, sofern man einen Teller heißen Wassers Abendessen nennen konnte. Sie luden ihn ein, fragten, was er wolle, und er bat um Aufnahme in die kleine Gemeinschaft; er sprach nicht von seinem Schmerz, sondern von seinem Wunsch, der Heiligen Mutter Kirche mit bescheidener, niedriger Arbeit als Laienbruder zu dienen, als der Geringste von allen, nur bedacht auf den Blick Gottes Unseres Herrn. Pater Josep de Sant Bartomeu, der bereits Prior war, sah ihm in die Augen und erriet das Geheimnis seiner Seele. Dreißig Tag und dreißig Nächte musste er vor dem Klostertor in einer dürftigen Hütte ausharren. Doch ihn verlangte es nach dem Schutz der Kutte, der Sicherheit eines Lebens gemäß der heiligen Benediktinerregel, die die Menschen verwandelt und denen, die ihr folgen, inneren Frieden gewährt. Neunundzwanzig Mal flehte er darum, ein einfacher Mönch sein zu dürfen, und neunundzwanzig Mal sah ihm der Pater Prior in die Augenund wies ihn ab. Bis er eines glücklichen, regnerischen Tages zum dreißigsten Mal um Einlass bat.
    »Du sollst es nicht anfassen, verdammt noch mal, Finger weg!«
    Mein Bündnis mit Vater bekam Risse, wenn es nicht schon zerbrochen war.
    »Aber ich will doch nur …«
    »Kein Aber. Willst du eine Ohrfeige? Sag! Willst du eine Ohrfeige?«
    Jener Winter lag nun schon lange zurück. Er trat als Postulant ins Kloster von Burgal ein und wurde drei frostige Winter später zum Laienbruder ernannt. Zum Gedenken an ein Lächeln, das ihn verwandelt hatte, nahm er den Namen Julià an. Er lernte, seine Seele zu befrieden, seinen Geist zu läutern und das Leben zu lieben. Auch wenn die Soldaten des Herzogs von Cardona oder des Grafen Hug Roger durchs Tal zogen und alles verwüsteten, war das Kloster auf seinem Berggipfel Gott und seinem Frieden näher. Beharrlich beschritt er den Weg zur Weisheit. Die Glückseligkeit erreichte er nicht, jedoch eine vollkommene Gelassenheit, die ihm zu innerem Gleichgewicht verhalf, und er lernte, auf diese besondere Art zu lächeln. Manch einem der Brüder kam der Gedanke, Bruder Julià sei auf dem besten Weg, ein Heiliger zu werden.
    Die hoch stehende Sonne bemühte sich vergeblich, ein wenig Wärme zu spenden. Die Brüder von Santa Maria waren immer noch nicht da; wahrscheinlich hatten sie in Soler übernachtet. Trotz der zaghaften Sonne herrschte in Burgal alle Kälte der Welt. Die Bauern waren schon vor Stunden wieder nach Escaló aufgebrochen, mit traurigen Augen und ohne eine Entlohnung zu verlangen. Er

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