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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Keiner erwartete ihn, um zu tun, was er zu tun hatte, falls er nicht auf seinen zwei Beinen aus dem Haus käme, und er war stolz auf seine Durchtriebenheit. Allerdings hatte er nicht mit Falegnamis Notizbuch gerechnet. Und auch seinen gehässigen Blick übersehen. Und am Nachmittag, ohne seine Seele Gott oder dem Teufel, Senyor Berenguer oder Pater Morlin zu empfehlen, zeigte er einen gewissen Doktor Aribert Voigt bei der Polizei an, einen ehemaligen Offizier der Waffen-SS, der sich im Ufficio della Giustizia e della Pace versteckte, getarnt als harmloser, dicker, glatzköpfiger Pförtner mit verlorenem Blick und Knollennase, wobei Ardèvol von Voigts ärztlicher Tätigkeit gar nichts wusste. Ebenso wenig wie Doktor Budden wurde auch Doktor Voigt nie mit Auschwitz-Birkenau in Verbindung gebracht. Die entsprechenden Unterlagen waren offenbar rechtzeitig verbrannt worden, und während sich alle Fragen um den verschwundenen Doktor Mengele und sein Umfeld drehten, hatten die eifrigen Forscher in den anderen Lagern Zeit, Beweise zu vernichten. Dazu musste man das allgemeine Chaos in Betracht ziehen, die zahllosen Listen mit Namen von Angeklagten, die Unfähigkeit des Sergeant Major, der das Verfahren einleiten sollte und von dieser Aufgabe schlicht überfordert war, und alles miteinander hatte zur Folge, dass der wahre Doktor Voigt und dessen tatsächliche Aktivitäten unerkannt blieben. Man verurteilte ihn als Offizier der Waffen-SS zu fünf Jahren Haft, denn eine Beteiligung an Kriegshandlungen oder Vernichtungsmaßnahmen im grausamen Stil der meisten SS-Einheiten konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
    Es war einige Jahre später um die Tageszeit, als die Al-Qaimariyya-Straße voller Männer in Kaftanen war, die aus der majestätischen Omayyaden-Moschee kamen und über dieAuslegung der Sure dieses Freitags sprachen oder sich auch nur über die gestiegenen Preise für Schuhe, Tee und Gemüse aufregten. Doch gab es dort auch eine Menge Leute, die aussahen, als hätten sie noch nie eine Moschee betreten, und auf den schmalen Terrassen des Al-Nawfara oder der anderen Kaffeehäuser saßen, ihre Wasserpfeife rauchten und versuchten, nicht darüber nachzudenken, ob es dieses Jahr wohl einen weiteren Staatsstreich geben würde.
    Wenige hundert Meter von dort entfernt saßen mitten im Labyrinth der Gassen auf dem Rand eines Brunnens zwei schweigende Männer, deren Blicke sich gen Westen verloren, zum Bab al-Jabiya, Richtung Mittelmeer, wo allmählich die Sonne versank. Ein zerstreut Vorübergehender hätte die beiden für streng Gläubige halten können, die darauf warteten, dass sich die Sonne zur Ruhe begäbe und die Dunkelheit hereinbräche; auf den magischen Augenblick, von dem an ein weißer Faden nicht mehr von einem schwarzen Faden zu unterscheiden wäre und Mawlid an-Nabi begänne und der Name des Propheten allgegenwärtig wäre und für alle Zeiten gepriesen würde. Und es kam der Moment, als ein menschliches Auge einen weißen nicht mehr von einem schwarzen Faden unterscheiden konnte und, auch wenn sich das Militär nicht darum scherte, in ganz Damaskus Mawlid an-Nabi begangen wurde. Die beiden Männer auf dem steinernen Brunnenrand rührten sich erst, als sie unsichere Schritte vernahmen. Ein Abendländer, das hörten sie an der Art zu gehen, dem Stampfen und Keuchen. Sie wechselten einen stummen Blick und standen auf. Aus einer schmalen Seitenstraße bog ein dicker Mann mit einer große Nase um die Ecke, der sich mit einem Taschentuch die Stirn trocknete. Er kam direkt auf sie zu.
    »Ich bin Doktor Zimmermann«, sagte er.
    Die beiden Männer setzten sich wortlos in Bewegung, gingen mit raschem Schritt durch die Gassen, die den Basar säumten, und der dicke Mann hatte Mühe, sie nicht an einer Abzweigung oder zwischen den Passanten zu verlieren, bis sie in immer weniger belebte Gassen kamen und schließlichdurch eine halboffene Tür in einen Laden schlüpften, der vollgestopft war mit kupfernen Gerätschaften. Er folgte ihnen. Sie schlängelten sich durch den schmalen Pfad, den die aufgestapelten Waren frei ließen, zu einem Vorhang im rückwärtigen Teil des Ladens und standen gleich darauf in einem Innenhof, wo ein Dutzend Kerzen brannte und ein kleiner, kahlköpfiger Mann im Kaftan ungeduldig auf und ab ging. Als dieser sie eintreten sah, ignorierte er die beiden Führer, schüttelte dem Abendländer die Hand und sagte, ich habe mir schon Sorgen gemacht. Die Führer verschwanden so lautlos, wie sie gekommen

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