Das Schweigen des Sammlers
die zu den wichtigsten meines Lebens werden sollten. Den maßgeblichen. Sara Voltes-Epstein starb in Barcelona im Herbstsechsundneunzig. So bbeschissen kann es laufen, denn sie wurde nicht einmal fünfzig. Sara Voltes-Epstein zeichnete für die Kinder anderer und stellte ihre Bleistift- und Kohlezeichnungen ganz selten und nur widerwillig aus, denn ihr ging es vor allem um das Wesentliche: ihre Verständigung mit dem Blatt Papier, die im Strich des Bleistifts oder der Zeichenkohle Ausdruck fand. Sie war eine sehr gute Zeichnerin. Sie war sehr gut. Sie war.
Das Leben ging weiter, trauriger, aber es ging weiter seinen Gang. Das Erscheinen des Buches mit den Porträts von Sara Voltes-Epstein erfüllte mich mit einer tiefen, unüberwindlichen Melancholie. Die Kurzbiographie, die Max verfasst hatte, war knapp, aber tadellos, wie alles, was Max in die Hand nahm. Danach überstürzten sich die Ereignisse. Laura kam, wie bereits angedroht, nicht aus Uppsala zurück, und ich verkroch mich in meinem Arbeitszimmer, um über das Böse zu schreiben, denn mir gingen viele Dinge durch den Kopf. Doch obwohl Adrià Ardèvol verzweifelt ein Blatt nach dem anderen vollschrieb, wusste er, dass er nicht vorankam; dass es unmöglich war voranzukommen, weil er ständig das Schrillen des Telefons im Ohr hatte, ein äußerst unangenehmes Dis.
Rsrsrsrsrsrsrsrsrs. Das war jetzt die Türklingel.
»Störe ich?«
Adrià hatte schließlich öffnen müssen. Diesmal hatte Bernat auf jede Umschweife verzichtet und gleich die Geige und seine umfangreiche, altgediente Reisetasche mitgebracht.
»Habt ihr wieder Krach?«
Bernat trat ein, ohne das Offenkundige zu bestätigen. Die ersten fünf Tage war er sehr schweigsam, während ich mich fruchtlos mit meinem Text herumschlug und dem hartnäckigen Telefon trotzte.
Vom sechsten Tag an begann Bernat, mich auf seine gutmütige Art zu beschwatzen, ich solle doch endlich den Computer zum Einsatz bringen, und alles, was Llorenç mir gezeigt und ich mangels Übung schon allmählich wieder vergaß, noch einmal mit mir durchzugehen.
»Ja, ich verstehe schon, was du meinst. Aber um ihn zu benutzen, müsste ich … ihn benutzen, und dazu fehlt mir einfach die Zeit, du.«
»Bei dir ist Hopfen und Malz verloren.«
»Wie soll ich damit arbeiten, wenn ich kaum mit der Schreibmaschine umgehen kann?«
»Trotzdem benutzt du sie.«
»Weil ich keine Sekretärin habe, die mir alles ins Reine schreibt.«
»Du ahnst nicht, wie viel Zeit du sparen würdest.«
»Meine Welt ist der Codex, nicht die Rolle.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Dass meine Welt der Codex und nicht die Rolle ist?«
»Keine Ahnung, wovon du redest. Ich will dir nur helfen, mit dem Computer Zeit zu sparen.«
Weder konnte Bernat mich überzeugen, noch brachte ich es fertig, mit ihm über Llorenç zu sprechen und ihm klarzumachen, dass er sich hüten musste, kein Vater nach dem Muster des meinen zu werden. Und eines Tages, nachdem er knapp zwei Wochen bei mir verbracht hatte, sah ich ihn seine Sachen packen. Er kehrte nach Hause zurück, weil er, wie er mir beim Abschied sagte, so nicht leben könne, was auch immer das heißen mochte. Er verließ meine Wohnung, kaum dass er sich mit Tecla halbwegs geeinigt hatte, und ich war wieder allein. Für immer allein.
Der Gedanke ließ mir keine Ruhe, bis ich eines schönen Tages Max anrief und ihn fragte, ob er zu Hause sei, weil ich ihn sehen müsse. Zu allem entschlossen fuhr ich nach Cadaqués.
Das Haus der Voltes-Epsteins ist groß, weitläufig, nicht besonders schön, aber mit Blick auf die kleinen Buchten und das homerische Blau des Mittelmeers. Ein Paradies, in das ich zum ersten Mal meinen Fuß setzte. Ich freute mich sehr, dass Max mich zur Begrüßung umarmte. Es war wie die offizielle, wenngleich verspätete Aufnahme in den Familienverband. Das beste Zimmer des Hauses, das nach Senyor Voltes’ Tod zu Max’ Arbeitszimmer geworden war, enthielteine beeindruckende Bibliothek über die Welt des Weins, die vermutlich vollständigste Europas: sonnige Hanglagen, Weinberge, Reben, Stöcke, Blätter, Krankheiten, Trauben, Monographien über Cabernet, Tempranillo, Chardonnay, Riesling, Shiraz und Konsorten, die Geschichte, die geographische Verteilung, historische Krisen, Epidemien, die Reblaus, der Ursprung der Sorten, die idealen Längen- und Breitengrade. Der Nebel und der Weinstock. Der Wein, der aus der Kälte kam. Die Rosine. Weine aus Gebirgs- und Hochgebirgslagen. Keller, Gewölbe,
Weitere Kostenlose Bücher