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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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rettete ihm das Leben und brachte sie zur Besinnung. Sie gab ihn beim Tierschutz ab, obwohl sie wusste, dass sie dem armen Tier Unrecht tat. Sara Voltes-Epstein verbrachte mehrere Monate in tiefer Trauer, zeichnete schwarze abstrakte Formen und verbrachte ihre Arbeitsstunden mit der Illustration von Märchen, die Mütter ihren lebendigen, fröhlichen Töchtern vorlesen würden, und dachte sich Zeichnungen aus, die ihre kleine Claudine niemals sehen würde, und versuchte, sich von ihrem Kummer nicht innerlich auffressen zu lassen. Und nach genau einem Jahr klingelte ein Lexikonverkäufer an ihrer Tür. Verstehst du,dass ich nicht gleich wieder mit dir zusammen sein konnte? Verstehst du, dass ich mit niemandem leben wollte, der mir wegsterben könnte. Verstehst du, dass ich beinahe den Verstand verloren hätte?
    Sie schwieg. Wir schwiegen. Ich legte ihre Hand auf ihre Brust und streichelte ihre Wange; sie ließ es sich gefallen. Ich sagte, ich liebe dich, und hoffte, dass sie sich ruhiger fühlte. In keinem Moment wagte ich zu fragen, wer Claudines Vater war und ob du mit ihm zusammenlebtest, als die Kleine starb. Indem du mir nur ausschnittweise Einblick in dein Leben gewährtest, wie in einer Kohleskizze, wo hier ein Schatten hervorgehoben, dort eine Linie betont ist, beanspruchtest du dein Recht, deine Geheimnisse für dich zu behalten; das verschlossene Zimmer von Ritter Blaubart. Und Dora ließ mich ungehörig lange bleiben.

56
    An dem Tag, als du auf das Thema zurückkamst und mich wieder batest, dir beim Sterben zu helfen, weil du es nicht allein tun konntest, überlief es mich kalt, denn ich hatte geglaubt, du wärst darüber hinweg. Und darum sagte Adrià, aber wie kannst du jetzt sterben wollen, da unsere Überraschung für dich fast fertig ist. Was für eine Überraschung? Dein Buch. Mein Buch? Ja, mit allen deinen Porträts; Max und ich haben es gemacht.
    Sara lächelte und überlegte einen Moment. Dann sagte sie, danke, aber was ich will, ist Schluss machen. Ich habe keine Lust zu sterben, aber ich will niemandem zur Last fallen und mich nicht mit diesem Leben abfinden, das mich erwartet: immer dieselbe bbeschissene Zimmerdecke anzustarren. Ich glaube, das war das erste und einzige Mal, dass ich einen Kraftausdruck von dir hörte. Vielleicht auch das zweite Mal.
    Aber. Ja, ich verstehe dein Aber. Ich weiß doch gar nicht, wie. Ich schon; Dora hat es mir erklärt. Doch dazu brauche ich Hilfe. Das kannst du nicht von mir verlangen. Und wenn es jemand anderes tut, würde dir das nichts ausmachen? Nein; ich meine, das darfst du von niemandem verlangen. Hier befehle ich; es ist mein Leben, nicht deins; und die Gebrauchsanweisung schreibe ich.
    Ich traute meinen Ohren nicht. Als gäbe es zwischen Laura und Sara … Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich an Saras Bett losheulte wie ein Schlosshund. Der kurze Haarschnitt stand ihr übrigens ganz wunderbar. Ich hatte dich noch nie mit kurzen Haaren gesehen, Sara. Und sie, da sie mir nicht tröstend über den Kopf streichen konnte, beschränkte sich darauf, an die bbeschissene Zimmerdecke zu starren und das Ende meines Weinkrampfs abzuwarten. Ich glaube, zwischendurch kam irgendwann Dora mit den Medikamentenins Zimmer, zog sich jedoch angesichts des Bildes, das sich ihr bot, diskret wieder zurück.
    »Adrià.«
    »Ja …«
    »Liebst du mich mehr als irgendjemanden sonst?«
    »Ja, Sara. Du weißt, dass ich dich liebe.«
    »Dann tu, was ich dir sage.« Und nach einer Weile: »Adrià.«
    »Ja.«
    »Liebst du mich mehr als irgendjemanden sonst?«
    »Ja, Sara. Du weißt, dass ich dich liebe.«
    »Dann tu, worum ich dich bitte.« Und fast im gleichen Atemzug ein drittes Mal: »Adrià, Liebster.«
    »Ja.«
    »Liebst du mich?«
    Es betrübte Adrià, dass du ihm die Frage zum dritten Mal stelltest, denn ich würde mein Leben für dich geben, und jedesmal, wenn du mich das fragst, denke ich nur …
    »Liebst du mich oder nicht?«
    »Du weißt alles, und du weißt, dass ich dich liebe.«
    »Dann hilf mir zu sterben.«
    Beim Verlassen des Krankenhauses hatte ich ein schlechtes Gewissen. Zu Hause wanderte ich durch das Universum meiner Bibliothek und ließ den Blick achtlos über die Bücherrücken der Frühgeschichte gleiten. Wenn ich sonst durch die Prosa in romanischen Sprachen schlenderte, entsann ich mich immer genussvoller Lesestunden, und sobald ich zur Lyrik gelangte, nahm ich unweigerlich ein Buch heraus, überflog ein paar zufällig oder absichtlich

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