Das Schweigen des Sammlers
auf.
»Und Signora Ardèvol?«, erkundigte sie sich mit engelsgleicher Stimme.
»Du bist Italienerin!«, bemerkte ich.
»Ganz recht. Man hat mir schon gesagt, dass du ein sehr schlaues Kerlchen bist.«
»Wer hat dir das gesagt?«
Da meine Mutter seit dem frühen Morgen im Laden für Umtrieb und Ordnung sorgte, sagte die Erscheinung zu Lola Xica, es mache ihr nichts aus, zu warten, bis sie käme. Lola Xica wies brüsk auf einen Schemel und verschwand. Die Erscheinung setzte sich, schaute mich an, an ihrem Hals glänzte ein hübsches goldenes Kreuzchen, und sie fragte mich, come stai. Und ich antwortete bene mit einem weiteren strahlenden Lächeln und dem Geigenkasten in der Hand, weil ichUnterricht bei Manlleu hatte, und der Maestro hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit.
»Ciao!«, sagte ich verlegen, während ich die Tür zum Treppenhaus öffnete. Und mein Engel warf mir von seinem Hocker aus eine Kusshand zu, die mich mitten ins Herz traf. Und ihre roten Lippen sagten ciao, unhörbar, aber auf eine Art, die man tief im Herzen hört. Ich schloss die Tür so leise wie möglich, um den Zauber nicht zu zerstören.
»Lass die Töne nicht so schleifen, Junge! Du erzeugst einen negroiden, epileptiformen Rhythmus wie auf einem Blasinstrument!«
»Was?«
»Sieh her, sieh her!«
Professor Manlleu riss ihm die Geige aus der Hand und spielte ein maßlos übertriebenes Portamento, wie ich es noch nie getan hatte. Und die Geige am Hals sagte er, das ist Scheiße. Hast du verstanden? Abartig, schwachsinnig, widerlich und schweinisch!
Schon nach den ersten zehn Minuten meiner dritten Stunde bei Maestro Manlleu vermisste ich die Trullols. Dann erzählte der Maestro, vermutlich um ihn zu beeindrucken, dass er in seinem Alter – in deinem Alter, eh? – tatsächlich ein Wunderkind gewesen sei. Als ich so alt war wie du, habe ich Max Bruch gespielt, ohne dass man es mir beigebracht hätte.
Und wieder nahm er ihm die Geige weg und spielte Geeeee-ha-de-ge-haaa-aaa-fiis-geee. Ha-de-ge-haaa-und-so-weiter, ist das schön.
»Das ist ein Konzert und nicht diese beschissenen Etüden, die du übst.«
»Kann ich mit Max Bruch anfangen?«
»Du bist noch viel zu grün, um schon Bruch zu spielen, du Rotznase.«
Er gab ihm die Geige zurück, kam ihm sehr nahe und schrie ihn an, damit er ihn ja gut hörte: »Wenn du so wärst wie ich, dann vielleicht. Aber mich gibt es nur einmal.« In strengem Ton: »Übung Nummer zweiundzwanzig. Und machdir keine Illusionen, Ardèvol: Bruch war nur ein mittelmäßiger Komponist, der einen Glückstreffer gelandet hat.«
Und er schüttelte den Kopf und sagte, von Weltschmerz erfüllt: »Hätte ich mich doch mehr der Komposition widmen können …«
Bei Übung Nummer zweiundzwanzig, dei portamenti, ging es darum, zwei Töne miteinander zu verbinden, doch als Maestro Manlleu das erste Portamento hörte, fuhr er sofort wieder aus der Haut und begann, von seinem frühkindlichen Genie zu reden, diesmal von einem Bartók-Konzert, das er mit fünfzehn von vorn bis hinten ohne Stolpern beherrscht hatte.
»Du musst wissen, dass ein guter Interpret zusätzlich zu seinem normalen Gedächtnis noch ein spezielles Gedächtnis braucht, das es ihm ermöglicht, nicht nur alle Noten des Solisten zu speichern, sondern auch die des Orchesters. Wenn dir das nicht gelingt, taugst du nicht. Dann solltest du Eisverkäufer oder Laternenanzünder werden. Und nicht vergessen, sie hinterher wieder auszumachen.«
Also spielte ich die Portamento-Übung ohne Portamenti und hatte meine Ruhe. Die Portamenti würde ich dann eben zu Hause üben. Und Bruch war ein mittelmäßiger Komponist. Und falls ich es immer noch nicht kapiert haben sollte, wetterte Maestro Manlleu in den letzten drei Minuten der dritten Stunde, schon in der Diele, als ich bereits den Schal um den Hals hatte, noch gegen die Zigeunergeiger, die in Bars und Nachtlokalen spielten und einen schlechten Einfluss auf die Jugend hatten, weil sie sie zu überflüssigen und übertriebenen Portamenti verleiteten. Man erkennt sofort, dass sie die nur für die Frauen spielen. Solche Portamenti sind nur was für Schwuchteln. Bis Freitag, mein Junge.
»Gute Nacht, Meister.«
»Und merke dir alles, was ich dir gesagt habe und in den kommenden Stunden sagen werde, als würde es dir mit glühenden Eisen ins Hirn gebrannt. Nicht jeder genießt das Privileg, von mir unterrichtet zu werden.«
Zumindest wusste ich inzwischen, dass der BegriffSchwuchtel eng mit der Geige
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