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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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was mich an die Schule erinnerte, weit weg von meinen Eltern oder später meiner Mutter, weit weg von den Büchern, die Adrià nicht hatte mitnehmen können. Ich rannte hinauf zur Burg und blickte ins Tal auf Can Ges, das Haus, die Scheunen und die Ställe dahinter, und von oben wirkte das alles wie eine Weihnachtskrippe, ebenso wie nebenan die garbenübersäten Felder von Can Casic, das Häuschen und der alte, verwitterte Heuschober. Und den Hintergrund bildeten die von Korkeichen bedeckten Berge, der Collsacabra im Nordosten und im Osten der Montseny. Und wir schrien herum und waren die Größten, besonders Xevi, der sechs Jahre älter war als ich und mich immer bei allem besiegte, bis er seinem Vater mit den Kühen helfen musste und nicht mehr mit uns spielen konnte. Quico besiegte mich auch, aber beim Wettrennen bis zur weißen Wand habe ich ihn einmal geschlagen. Gut, er war gestolpert, aber ich hatte regulär gewonnen. Rosa war sehr hübsch, und, nun ja, auch sie besiegte mich bei allem. In Tante Leos Haus war das Leben anders. Es wurde weder gemeckert noch geschwiegen. Alle redeten miteinander und sahen sich dabei ins Gesicht. Es war ein riesiges Haus, in dem Tante Leo das Regiment führte, ohne jemals ihre stets saubere, beigefarbene Schürze abzulegen. Can Ges, das Stammhaus der Ardèvols, ist ein weitläufiges Gebäude mit dreizehn Zimmern, luftig im Sommer und für den Winter mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, in ausreichender Entfernung von den Kuhställen und Pferdekoppeln, mit einer nach Süden weisenden Fassade und einer Veranda, dem besten Platz der Welt zum Lesen und dem besten Platz der Welt zum Geigeüben, und meine Vettern und meine Cousine setzten sich ganz selbstverständlich zu mir, um zuzuhören, und statt Tonleitern spielte ich mein Repertoire, was immer mehr Eindruck macht, und einmal setzte sich eine Amsel auf das Geländer neben den Geranientopf und beobachtete mich, während ich die Sonate Nr. 2 des Second livre de sonates von Leclair spielte, deren viele Schnörkel es der Amsel offenbar angetan hatten und die ich auf Geheiß der Trullols einmal zum Kursbeginn am Konservatorium im Carrer del Bruc vortragen sollte. Und nachdem Onkel Leclair die letzte Note geschrieben hatte, pustete er über das Manuskript, weil ihm das Löschpuder ausgegangen war. Er erhob sich befriedigt, nahm die Geige und spielte die Sonate, ohne in die Noten zu sehen, während er die unmöglichsten Fortsetzungen ersann. Dann schnalzte er mit der Zunge, stolz auf sein Werk, und setzte sich wieder. Auf die untere Hälfte des letzten Blattes, die leer geblieben war, schrieb er in seiner feierlichsten Handschrift: »Ich widme diese Sonate meinem geliebten Neffen Guillaume-François, dem Sohn meiner geliebten Schwester Annette, zu seiner Geburt. Möge seineReise durch dieses Jammertal eine angenehme sein.« Er las es noch einmal durch, musste wieder pusten und fluchte auf die Dienerschaft, die nicht imstande war, sein Schreibzeug in Ordnung zu halten. In Can Ges wusste jeder, was er zu tun hatte. Jeder, auch ich, der ich immer willkommen war, solange ich meine Pflicht erfüllte. Und im Sommer hatte ich keine weitere Pflicht, als mich anständig zu ernähren, denn diese Stadtkinder sehen immer halb verhungert aus, sieh nur, wie blass es ist, das arme Kerlchen. Meine Vettern waren schon größer; Rosa, die jüngste, war drei Jahre älter als ich. Somit sah man mir vieles nach, und ich war so etwas wie das Nesthäkchen, das mit guter Milch und nahrhafter Wurst gepäppelt werden musste. Das Brot mit Öl brauchte. Und Brot mit Wein und Zucker. Und Speck. Onkel Cinto beunruhigte Adriàs Gewohnheit, sich stundenlang einzuschließen und Bücher zu lesen, in denen keine Heiligenbilder waren, nur Buchstaben. Und das war bei einem Kind von sieben, zehn oder zwölf Jahren äußerst besorgniserregend. Doch Tante Leo legte dem Onkel sanft die Hand auf den Arm, und der wechselte das Thema und sagte zu Xevi, am Nachmittag müsse er ihn begleiten, weil Prudenci komme, um sich die Kühe anzusehen.
    »Ich will auch mit«, sagte Rosa.
    »Nein.«
    »Und ich?«
    »Ja.«
    Rosa war eingeschnappt, weil Adrià, obwohl er der Kleinste war, mitdurfte, und sie nicht.
    »Du, das ist scheußlich, Liebes«, sagte Tante Leo.
    Und ich ging mit und sah zu, wie Prudenci der Blanca die Faust und seinen ganzen Arm in den Hintern steckte und dann irgendetwas zum Onkel sagte, was Xevi auf ein Blatt Papier schrieb, und die Blanca käute wieder,

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