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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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gleichgültig gegen die Sorgen meines O…
    »Achtung, Achtung, Achtung, sie pinkelt!«, rief Adrià begeistert.
    Die Männer traten beiseite, ohne sich bei ihrer Unterhaltung stören zu lassen, aber ich blieb dicht dran, denn einerKuh beim Pinkeln und Kacken zuzusehen war für mich eines der ganz großen Ereignisse des Lebens in Tona. Oder auch Parrot, dem Maulesel von Can Casic. Das musste man wirklich aus nächster Nähe erlebt haben, und deshalb fand ich Onkel und Tante der armen Rosa gegenüber ungerecht. Es gab auch noch andere Dinge, zum Beispiel Kaulquappenfangen am Ufer vom Clot de Matamonges. Wir kamen mit acht oder zehn Opfern zurück und steckten sie in eine Glasflasche.
    »Die armen Viecher.«
    »Nein, Tantchen, ich werde sie jeden Tag füttern.«
    »Die armen Viecher.«
    »Ich gebe ihnen Brot, Ehrenwort.«
    »Die armen Viecher.«
    Ich wollte zusehen, wie sie sich in Frösche verwandelten, wenngleich es häufiger vorkam, dass sie sich in tote Kaulquappen verwandelten, denn wir dachten weder daran, ihnen frisches Wasser zu geben, noch dass Brot womöglich keine geeignete Nahrung war. Und die Schwalbennester unter dem Vordach. Und die plötzlichen Unwetter. Und die wundervollen Tage, wenn in Can Casic das Getreide gedroschen wurde, wozu man schon keine Dreschflegel mehr verwendete, sondern Maschinen, die die Körner von der Spreu trennten, das Stroh bündelten und das ganze Dorf und meine Erinnerungen in Staubwolken hüllten. Et in Arcadia ego, Hadrianus Ardèvol. Diese Erinnerungen kann mir niemand nehmen. Und heute glaube ich, dass Tante Leo und Onkel Cinto herzensgute Menschen waren, denn nach dem Streit zwischen den beiden Brüdern taten sie, als wäre nichts gewesen. Dieser Streit lag schon lange zurück. Adrià war noch nicht auf der Welt gewesen. Und ich erfuhr davon in dem Sommer, in dem ich zwanzig wurde, weil ich nicht allein mit meiner Mutter in Barcelona bleiben wollte und beschloss, für drei oder vier Wochen nach Tona zu fahren, wenn ich euch nicht störe. Außerdem war ich niedergeschlagen, denn Sara, mit der ich mich hinter dem Rücken beider Familien traf, hatte mit ihren Eltern nach Cadaqués fahren müssen, und ich fühlte mich mutterseelenallein.
    »Was soll das heißen, wenn ich euch nicht störe? Das will ich nie wieder hören«, sagte Tante Leo in gekränktem Ton. »Wann kommst du?«
    »Morgen.«
    »Deine Vettern sind nicht da. Also, Xevi ist zwar da, aber er verbringt den ganzen Tag mit dem Vieh.«
    »Damit habe ich schon gerechnet.«
    »Josep und Maria von Can Casic sind letzten Winter gestorben.«
    »O nein.«
    »Und die Viola ist vor Trauer auch gestorben.« Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann setzte sie, wie zum Trost, hinzu: »Sie waren sehr alt, alle beide. Und Josep ging schon ganz krumm. Und die Hündin war auch schon alt.«
    »Das tut mir wirklich leid.«
    »Bring deine Geige mit.«
    Also sagte ich meiner Mutter, Tante Leo habe mich eingeladen und ich könne die Einladung nicht ausschlagen. Mutter sagte weder ja noch nein. Wir waren wie Fremde und sprachen kaum miteinander. Ich verbrachte den Tag mit Lesen und Lernen, sie im Laden. Und wenn sie zu Hause war, lag in ihrem Blick noch immer der Vorwurf, meine brillante Solistenkarriere leichtsinnig über Bord geworfen zu haben.
    »Hast du gehört, Mutter?«
    Wie immer gab es im Laden offenbar Probleme, über die sie mit mir nicht reden wollte. Und so sagte sie nur, ohne mich anzusehen, bring ihnen eine Kleinigkeit mit.
    »Was denn, zum Beispiel?«
    »Keine Ahnung. Eine Kleinigkeit, entscheide du.«
    Und am ersten Tag in Tona schlenderte ich, die Hände in den Taschen, ins Dorf zu Berdagués Laden, um eine Kleinigkeit zu kaufen. Und als ich die Plaça Major erreichte, sah ich sie an einem der Tische der Bar Racó sitzen, eine Erdmandelmilch trinken und mir entgegenlächeln, als hätte sie mich erwartet. Nicht doch, sie hatte mich tatsächlich erwartet. Zuerst erkannte ich sie gar nicht; aber dann … Moment mal,die kenne ich doch, wer ist das, wer ist das, wer ist das? Dieses Lächeln kam mir so bekannt vor.
    »Ciao«, sagte sie.
    Da fiel es mir wieder ein. Ein Engel war sie zwar nicht mehr, aber sie hatte dasselbe engelsgleiche Lächeln. Sie war jetzt eine reife, von Natur aus hübsche Frau. Einladend wies sie auf den Platz neben sich, und ich setzte mich zu ihr.
    »Mein Katalanisch ist immer noch sehr lacunoso.«
    Ich sagte, wir könnten Italienisch sprechen. Dann fragte sie mich, caro Adrià, sai chi sono, vero?
    Ich

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