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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Turre
    vorübergegangen war, und sie hatte sich gefragt, wie es
    Maria ging, seiner Frau, die im Pflegeheim aus dem
    Bett gefallen war.
    Während des Interviews hatte sie dann das Licht
    der Scheinwerfer auf ihrer Haut gespürt, und Hämäläi-
    nen hatte Fragen gestellt, Fragen, über die er sie schon
    in einer ausführlichen Vorbesprechung informiert hatte,
    und sie hatte sicher sehr langsam gesprochen, denn sie
    hatte jedes Wort auf ihrer Zunge hin- und her
    geschoben, bis sie wusste, dass es der Wahrheit ent-
    sprach.
    Pias Tod in Worte kleiden. Zum ersten Mal in ihrem
    Leben. Im Gespräch mit einem Menschen, den sie
    nicht kannte.
    Eine professionelle Sanftheit, eine kamerataugliche
    Ruhe hatte in Hämäläinens Stimme gelegen. Sie machte
    ihm das nicht zum Vorwurf. Hämäläinen hatte den
    Blick über seine Fragen gleiten lassen, Ketola neben ihr
    hatte den Kopf gesenkt, die Scheinwerfer hatten künst-
    liches Licht gespendet, und sie hatte gesprochen wie in
    Trance und gespürt, dass sie nicht die Kraft hatte – und
    Hämäläinen nicht die Zeit –, um zu begreifen, worüber
    eigentlich geredet wurde.
    Am Schluss hatte das Publikum lange geklatscht,
    und Ketola neben ihr hatte gezittert. Ein Schauspieler,
    den sie mochte, hatte die Bühne betreten, sein Lächeln
    hatte sie gestreift, und Ketola hatte sich hinter den Kulissen bei ihr bedankt und gesagt, dass er nicht sicher sei,
    ob er ihr das habe zumuten sollen. Dass er nicht sicher
    sei, ob etwas daraus werde, ob es etwas bringen werde,
    und dann hatte er sie gebeten, mit ihm etwas trinken zu
    gehen.
    In dem Cafe hatten sie merkwürdigerweise gar nicht
    lange über Pia gesprochen und auch nicht über Sinikka
    Vehkasalo und nicht über den Täter, der nach dreiund-
    dreißig Jahren zurückgekehrt war.
    Ketola hatte von seinem Sohn erzählt. Sie hatten viel
    gelacht, weil die Geschichten von Ketolas Sohn einfach
    lustig waren, ein verzweifeltes Lachen natürlich, ein
    trauriges Lachen, und als der Kellner die Rechnung ge-
    bracht und Ketola in seiner Jackentasche nach dem
    Geld gekramt hatte, hatte sie bemerkt, dass sie zum
    ersten Mal in ihrem Leben wirklich betrunken war.
    Es hatte sich gut angefühlt, und auch, dass sie jetzt ins
    Bad ging und sich über dem Waschbecken übergab,
    fühlte sich gut an.
    Komischerweise dachte sie, während sie das Erbro-
    chene ansah, an Hämäläinen und dass sie in diesem Zu-
    stand ganz sicher nicht in dieser Sendung hätte auftreten
    können, und dass selbst der alkoholkranke Schauspieler
    ganz nüchtern ausgesehen hatte, als er die Bühne betrat.
    Dann dachte sie darüber nach, ob wohl ihr Nachbar
    Turre die Sendung gesehen hatte oder Hannu, ihr
    nichtgeschiedener Ex-Mann. Und dass es ohnehin ihr
    erster und letzter Auftritt dieser Art gewesen war.

    2

    Timo Korvensuo saß um sechs Uhr in der Hotel-
    Lobby. Eine freundliche junge Dame fragte, ob er die
    Tageszeitung lesen wolle. Er winkte ab und sah den
    Bediensteten beim Aufbau des Frühstücksbuffets zu.
    Er wälzte den Gedanken hin und her, der seit dem
    Moment des Erwachens sein Hirn ausfüllte.
    Pärssinen. Netter alter Hausmeister. Wie viele Men-
    schen mochte Pärssinen vergewaltigt und getötet haben?
    In all den Jahren.
    So viele Jahre, dachte er. Zurückkommen, um alles
    vorzufinden, wie es war. Pärssinens Wohnung. Das alte
    Sofa. Träume gab es nicht.
    Dieselbe freundliche Dame fragte, ob sie ihm einen
    Kaffee bringen könne.
    Nein, danke, sagte er. Guter Service. Gutes Hotel.
    Er fühlte sich laufen und mit dem jungen Mann an
    der Rezeption sprechen. Ja, er bleibe noch eine Nacht.
    Einen Tag und eine Nacht. Der junge Mann betrachtete
    einen Bildschirm und tippte auf einer Tastatur.
    »Kein Problem, Herr ... Korvensuo.«
    »Danke.«
    Im Frühstücksraum schlug er ein Ei auf. Das Gelb er-
    goss sich über ein Brötchen, und er trank doch einen
    Kaffee. Aß einen Joghurt, rührte ein wenig Marmelade
    hinein.
    Irgendwann räumten die Bediensteten das Büffet
    wieder ab und zogen mit Schwung die Decken von den
    Tischen. Ein kleines Mädchen von zwei oder drei
    Jahren rannte durch den Raum und sah ihn mit großen,
    neugierigen Augen an. Die Mutter hob es in ihre Arme
    und entschuldigte sich.
    »Kein Problem«, sagte er und schnitt eine Grimasse.
    Das Mädchen lächelte verunsichert.
    Er ging zurück auf sein Zimmer, das Bett war ge-
    macht. In der Nähe, in einem anderen Zimmer, dröhnte
    ein Staubsauger, und Pärssinen kauerte in seinem
    Wagen und entfernte

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