Das Schweigen
Turre
vorübergegangen war, und sie hatte sich gefragt, wie es
Maria ging, seiner Frau, die im Pflegeheim aus dem
Bett gefallen war.
Während des Interviews hatte sie dann das Licht
der Scheinwerfer auf ihrer Haut gespürt, und Hämäläi-
nen hatte Fragen gestellt, Fragen, über die er sie schon
in einer ausführlichen Vorbesprechung informiert hatte,
und sie hatte sicher sehr langsam gesprochen, denn sie
hatte jedes Wort auf ihrer Zunge hin- und her
geschoben, bis sie wusste, dass es der Wahrheit ent-
sprach.
Pias Tod in Worte kleiden. Zum ersten Mal in ihrem
Leben. Im Gespräch mit einem Menschen, den sie
nicht kannte.
Eine professionelle Sanftheit, eine kamerataugliche
Ruhe hatte in Hämäläinens Stimme gelegen. Sie machte
ihm das nicht zum Vorwurf. Hämäläinen hatte den
Blick über seine Fragen gleiten lassen, Ketola neben ihr
hatte den Kopf gesenkt, die Scheinwerfer hatten künst-
liches Licht gespendet, und sie hatte gesprochen wie in
Trance und gespürt, dass sie nicht die Kraft hatte – und
Hämäläinen nicht die Zeit –, um zu begreifen, worüber
eigentlich geredet wurde.
Am Schluss hatte das Publikum lange geklatscht,
und Ketola neben ihr hatte gezittert. Ein Schauspieler,
den sie mochte, hatte die Bühne betreten, sein Lächeln
hatte sie gestreift, und Ketola hatte sich hinter den Kulissen bei ihr bedankt und gesagt, dass er nicht sicher sei,
ob er ihr das habe zumuten sollen. Dass er nicht sicher
sei, ob etwas daraus werde, ob es etwas bringen werde,
und dann hatte er sie gebeten, mit ihm etwas trinken zu
gehen.
In dem Cafe hatten sie merkwürdigerweise gar nicht
lange über Pia gesprochen und auch nicht über Sinikka
Vehkasalo und nicht über den Täter, der nach dreiund-
dreißig Jahren zurückgekehrt war.
Ketola hatte von seinem Sohn erzählt. Sie hatten viel
gelacht, weil die Geschichten von Ketolas Sohn einfach
lustig waren, ein verzweifeltes Lachen natürlich, ein
trauriges Lachen, und als der Kellner die Rechnung ge-
bracht und Ketola in seiner Jackentasche nach dem
Geld gekramt hatte, hatte sie bemerkt, dass sie zum
ersten Mal in ihrem Leben wirklich betrunken war.
Es hatte sich gut angefühlt, und auch, dass sie jetzt ins
Bad ging und sich über dem Waschbecken übergab,
fühlte sich gut an.
Komischerweise dachte sie, während sie das Erbro-
chene ansah, an Hämäläinen und dass sie in diesem Zu-
stand ganz sicher nicht in dieser Sendung hätte auftreten
können, und dass selbst der alkoholkranke Schauspieler
ganz nüchtern ausgesehen hatte, als er die Bühne betrat.
Dann dachte sie darüber nach, ob wohl ihr Nachbar
Turre die Sendung gesehen hatte oder Hannu, ihr
nichtgeschiedener Ex-Mann. Und dass es ohnehin ihr
erster und letzter Auftritt dieser Art gewesen war.
2
Timo Korvensuo saß um sechs Uhr in der Hotel-
Lobby. Eine freundliche junge Dame fragte, ob er die
Tageszeitung lesen wolle. Er winkte ab und sah den
Bediensteten beim Aufbau des Frühstücksbuffets zu.
Er wälzte den Gedanken hin und her, der seit dem
Moment des Erwachens sein Hirn ausfüllte.
Pärssinen. Netter alter Hausmeister. Wie viele Men-
schen mochte Pärssinen vergewaltigt und getötet haben?
In all den Jahren.
So viele Jahre, dachte er. Zurückkommen, um alles
vorzufinden, wie es war. Pärssinens Wohnung. Das alte
Sofa. Träume gab es nicht.
Dieselbe freundliche Dame fragte, ob sie ihm einen
Kaffee bringen könne.
Nein, danke, sagte er. Guter Service. Gutes Hotel.
Er fühlte sich laufen und mit dem jungen Mann an
der Rezeption sprechen. Ja, er bleibe noch eine Nacht.
Einen Tag und eine Nacht. Der junge Mann betrachtete
einen Bildschirm und tippte auf einer Tastatur.
»Kein Problem, Herr ... Korvensuo.«
»Danke.«
Im Frühstücksraum schlug er ein Ei auf. Das Gelb er-
goss sich über ein Brötchen, und er trank doch einen
Kaffee. Aß einen Joghurt, rührte ein wenig Marmelade
hinein.
Irgendwann räumten die Bediensteten das Büffet
wieder ab und zogen mit Schwung die Decken von den
Tischen. Ein kleines Mädchen von zwei oder drei
Jahren rannte durch den Raum und sah ihn mit großen,
neugierigen Augen an. Die Mutter hob es in ihre Arme
und entschuldigte sich.
»Kein Problem«, sagte er und schnitt eine Grimasse.
Das Mädchen lächelte verunsichert.
Er ging zurück auf sein Zimmer, das Bett war ge-
macht. In der Nähe, in einem anderen Zimmer, dröhnte
ein Staubsauger, und Pärssinen kauerte in seinem
Wagen und entfernte
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