Das Schweigen
Fahrersitz. Er dachte
an den Jungen, der den Ball gegen das Garagentor kickte.
Immer und immer wieder. Immer und immer wieder. Er
dachte an Sanna. Er sah nichts. Nur das Wrack eines
Sportwagens. Er dachte Sannas Namen.
»Das war’s«, sagte auch Sundström, als Joentaa neben
ihm stand.
Joentaa nickte.
»Der Wagen ist auf Timo Korvensuo zugelassen. Er-
staunlich. Ich erkläre mich bereit, Ketola zu gratulieren.
Bei Gelegenheit. Fehlt nur noch die Leiche des Mäd-
chens«, sagte Sundström.
»Was ist denn genau passiert?« fragte Joentaa.
»Der Mann hat wie ein Irrer geschrien, ist in seinen
Wagen gestiegen und ohne Weiteres ins Wasser gebret-
tert.«
Joentaa sah ihn irritiert an.
»Das habe nicht ich gesehen, sondern die beiden da
hinten.«
Joentaa folgte Sundströms Blick zu den beiden Teen-
agern, die neben Heinonen standen.
»Die beiden sind natürlich einigermaßen bedient,
aber das wird schon wieder«, sagte Sundström.
Hinter ihnen kamen geräuschvoll zwei Wagen zum
Stillstand, einer von ihnen war ein TV-Übertragungs-
wagen. Dem anderen entstieg Nurmela, der Polizeichef.
Er kam mit schnellen, aber kontrollierten Schritten auf
sie zu, und winkte schon von weitem.
»Ein Fernsehteam von YLE. Für die Nachrichten. Ich
gebe denen ein kurzes Statement, und dann hauen die
wieder ab. Haben sie mir fest zugesichert.«
Sundström nickte.
»Gute Arbeit«, sagte Nurmela, sah nacheinander
Sundström, Grönholm und Joentaa an und klopfte
Joentaa auf die Schulter, bevor er sich in Richtung des
Übertragungswagens entfernte. Joentaa sah ihm nach
und spürte widerwillig, dass er sich über das Lob freute.
Obwohl er nicht das Geringste geleistet hatte und ob-
wohl es nicht den geringsten Grund zur Freude gab.
»Ich bin ... ein Arschloch«, sagte Joentaa.
Sundström und Grönholm sahen ihn entgeistert an.
»Wie bitte?« fragte Sundström.
»Ich bin ein Arschloch«, wiederholte Joentaa.
»Soso«, sagte Sundström.
»Und ich möchte jetzt wissen, was dieser Mist hier
soll.«
»Äh ...«sagte Sundström.
»Wieso gibt Nurmela ein Interview für die Nachrich-
ten, wenn wir überhaupt nichts wissen. Wieso ist denn
zum Beispiel Korvensuo in den See gefahren?«
»Gewissensbisse?« sagte Grönholm.
»Gewissensbisse. Nach dreiunddreißig Jahren. Und
vorher tötet er noch schnell ein anderes Mädchen an
derselben Stelle. Um sich dann plötzlich aufsein Gewis-
sen zu besinnen. Oder was?«
»Genau«, sagte Sundström ungerührt.
»Das überzeugt mich nicht«, sagte Joentaa.
»Kimmo, komm doch einfach mal zur Ruhe. Du hast
eine anstrengende Fahrt hinter dir. Bleib doch gelassen.
Wenn Nurmela Unsinn erzählen sollte, ist das doch
sein Problem. Ist doch vollkommen egal.«
»Das ist keineswegs egal. In Helsinki sitzt die Frau die-
ses Mannes in dem Wagen da. Und Nurmela schwätzt
jetzt vor der Kulisse dieses Autowracks dummes Zeug.«
»Die werden die Leiche schon nicht zeigen. Zur bes-
ten Sendezeit.«
»Darum geht es doch gar nicht, du Idiot!«
»Wie bitte?« fragte Sundström.
»Herrgott nochmal!« Joentaa wandte sich ab und
ging, ohne zu wissen, wohin er eigentlich gehen wollte.
Er war selbst überrascht von dieser Wut. Vermutlich
hatte ihm Ketolas Lachanfall doch sehr zugesetzt.
Warum musste eigentlich er sich immer diesen Mist
antun lassen? Warum musste ausgerechnet er immer
ruhig bleiben?
Er stand eine Weile unschlüssig, dann ging er ziel-
strebig auf Kari Niemi zu, der seine Kollegen instruierte
und ihm, natürlich, ein entspanntes Lächeln schenkte,
als er sich näherte.
»Hallo, Kimmo«, sagte er.
Mehr nicht. Es reichte, um Joentaa wieder ein wenig
ins Gleichgewicht zu bringen.
Niemi sprach schon wieder mit seinen Mitarbeitern,
und Joentaa sah den Jungen und das Mädchen, die wie
begossene Pudel neben Heinonen standen.
Weiter hinten passierte etwas, das Joentaa irritierte,
ohne dass er für Momente begriff, was es war. Ein
Wagen setzte sich in Bewegung. Sein Dienstwagen. Ke-
tola steuerte ihn auf den Waldweg. Ohne jede Hektik.
Zur Ruhe gekommen. Momente, in denen Ketola zur
Ruhe kam, hatten immer etwas Endgültiges gehabt.
Joentaa sah dem sich entfernenden Wagen nach und
dachte, dass etwas zu Ende gegangen war.
Nurmela hatte sein Interview abgeschlossen und
zwinkerte ihm zu.
Immer und immer wieder, dachte Joentaa. Ein Ball,
ein roter Ball. Und eine Garagenwand. Immer und
immer wieder. Einfach nicht aufhören.
Seine Beine gaben nach. Er
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